Der Nordkanal

Die Gründe für den Kanalbau

"aus: Tamm, Horst (Hrsg): Das Kanalhaus. Der Nordkanal im Raume Viersens und das Viersener Kanalhaus, Viersen (Eigenverlag), 2000."

Mit freundlicher Genehmigung des Verfassers vom 12. Juli 2022

Logo

1794 wurde das linksrheinische Deutschland von den Fran­zosen besetzt. Mit dem Vertrag von Luneville 1801 lagen die Voraussetzungen dafür vor, dass Frankreich die neuerworbenen Gebiete auch wirtschaftlich und verkehrsmäßig integrieren konnte.

Die ehemalig habsburgischen (Süd-)Niederlande (in etwa das heutige Belgien) mit Antwerpen gehörten zu dieser Zeit ebenfalls zu Frankreich. Eine Kanalverbindung wurde erwogen und man erwartete durch einen solchen Kanal ein Aufblühen der Industrie und des Handels. Am 9. Thermidor des Jahres 11 (= 28. Juli 1803) beschloss die französische Regierung im Roer-Departement eine Kanalverbindung zwischen Rhein und Maas zu schaffen. Der Frankreich unterstehende Teil Deutschlands unterstützte den Kanalbau ebenfalls und meldete Wünsche und Forderungen hinsichtlich Trasse und Häfen an. Nachdem Napoleon alle großen europäischen Mächte des Kontinents besiegt hatte (Österreich und Rußland u. a. 1805 in der Schlacht bei Austerlitz, Preußen 1806 in der Schlacht bei Jena und Auerstädt), aber gegen England nichts vermochte, (verlorene Seeschlachten, u. a. von Trafalgar 1805) verhängte er gegen dieses am 21. 11. 1806 eine Wirtschaftsblockade, die sogenannte Kontinentalsperre.

In dieser Situation sollte der bereits konzipierte Rhein-Maas-Schelde-Kanal eine ganz neue Bedeutung erlangen. Wir folgen in der Darstellung der Ereignisse einem Zeitgenossen, nämlich Papon: „ (...) überall wurde bei Todesstrafe die Angaben aller englischen Güter und Waaren gefordert, die theils konfiscirt wurden, theils gegen das Dappelte und Dreyfache des Werthes ausgelöset werden mussten. Napoleon versuchte System in diese Räubereyen zu bringen, in dem er die brittischen Inseln zu Wasser und zu ande in Blockadezustand erklärte . . . Aller Handel mit den brittischen Inseln wurde verboten; jeder Engländer, den man erreichen könne, sollte kriegsgefangen, jedes englische Eigenthum, jede Colonialwaare gute Beute seyn."

Napoleon betrachtete die eroberten Länder und Städte als Faustpfänder für die von England eroberten französischen Kolonien. Allerdings kämpfte auch Großbritannien mit ähnlich rigorosen Mitteln. Nach den englischen Kabinettsbefehlen wurde gegen Frankreich, aber auch gegen jeden mit ihm verbündeten Land und gegen jeden von Frankreich eroberten Hafen die Seekriegsordnung angewandt, die sich auf alle Schiffe, gleich ob Kriegs- oder Handelsschiffe, alle Besatzungen und alle Häfen bezog. „Die englischen Cabinettsbefehle aber seyen nicht Veranlassung, sondern die nothwendige Folge der Maßregeln, welche Frankreich gegen den neutralen Handel ergriffen habe".

Die Niederlande, schon als Batavische Republik (1795/97 - 1806) zu einem Satelliten Frankreichs geworden, erhielten 1806 Napoleons Bruder Ludwig als König. Aber auch dieser konnte sich den Schwierigkeiten, in die die Niederlande gerie­ ten, nicht verschließen. Sein Land wurde zwar im Osten u. a. durch Ostfriesland und Jever vergrößert. Aber zu den wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die schon die letzten Jahre des „ancien regime" beherrschten, weil es die Strukturprobleme der Wirtschaft nicht zu lösen vermochte, kamen die kriegsbedingten Ausfälle des Handels. Ebenso kriegsbedingt fehlten die Einkünfte aus den Kolonien. Dazu kamen Überschwemmungen und andere Unglücke. „Auswanderungen wurden immer häufiger, mit dem wachsenden Elende nahm die Bevölkerung immer mehr und mehr ab, die Finanznoth stieg von Tag zu Tage" . Nicht oder nur wenig betroffen waren nur die ganz Reichen und so konnte der deutsche Historiker Barthold Georg Niebuhr, der um diese Zeit die Niederlande bereiste, urteilen: „Es ist schon fast dahin gekommen, dass es hier nur Reiche und Bettler gibt,".

Ungerührt forderte Napoleon auch die Teilnahme Hollands an der Kontinentalsperre. Seine Meinung über die Niederländer drückte er etwas später wie folgt aus: „Die Holländer, weit entfernt die Vaterlandsliebe der Amerikaner nachzuahmen, die sich freywillig alles Handels beraubten, hätten sich nur durch elende kaufmännische Rücksichten bestimmen lassen. Sie seyen ein Verein von Kaufleuten, wehrlos, ohne Kraft, keinen anderen Vortheil als jenen des Handels kennend; sie seyen daher wohl als eine nützliche, reiche, achtenswerthe Handelsgesellschaft anzu sehen, aber nicht als Nation". Napoleon war nun entschlossen, den Rheinhandel von den Niederlanden (dem Königreich seines von ihm eingesetzten Bru­ders!) ab- und den von ihm direkt in Besitz genommenen südniederländischen Städten wie Antwerpen zuzuleiten. Es war das die gleiche Reaktion, die auch die Spanier zwei Jahrhunderte vorher bewegte, den Kanalbau Rhein-Maas-Schelde als Waffe gegen die Holländer einzusetzen. Damals brach das Kanalbau unternehmen wegen der dem Staatsbankrott nahen Finanzlage Spaniens zusammen; im Westfälischen Frieden musste sich überdies Spanien verpflichten, den Kanalbau nicht wieder aufzunehmen. - So verblieb die erste der beiden großen Kanalbauruinen.

Um sich selbst ein Bild von den verschiedenen vorgeschlagenen Trassen zu machen, reiste Napoleon im September 1804 an den Rhein, um die Fossa Eugeniana und andere Trassierungsmöglichkeiten zu besichtigen . Im Februar 1806 nahmen die vereinigten Komitees „Ponts et Chaussees" (Brücken und Chausseen) und „ Fortification" (Festungsbau) den später zur Ausführung gekommenen Plan an. Über das Für und Wider zu den verschiedenen Trassen wird auf Scheller verwiesen. Es seien hier nur die Gesichtspunkte übernommen, die zu berücksichtigen waren

  • mit einen möglichst kurzen Kanal eine möglichst schnelle Verbindung zu schaffen
  • möglichst wenige Erdbewegungen und wenig Bauten (Schleusen, Brücken), um möglichst wirtschaftlich zu sein
  • dem Kanal muß einfach und ausreichend Speisewasser zugeführt werden können; Betriebssicherheit
  • der Kanal sollte als Verteidigungslinie dienen können

Letzter Gesichtspunkt wurde bei der Fossa Eugeniana durch eine Kette von 24 Forts bzw. Schanzen Rechnung getragen. Beim Nordkanal lagen aus Verteidigungsgründen alle Anlagen, soweit wie möglich, auf der „ französischen", Frankreich zugekehrten Seite. Das Speisewasserproblem wurde durch Inanspruchnahme von Erft und Niers gelöst; im Falle der Erft wurde die seit dem 15. Jh. bestehende hochgelegene Ableitung (die „ Obererft"), die Wasser auf die Mühlen von Neuss lieferte, in Anspruch genommen. Wehre in Selikum sollten die Wassermengen besser kontrollieren helfen. Für die Viersener ist von den verschiedenen diskutierten Trassen die über Beberich von besonderem Interesse. „ Als kürzeste Verbindung erschien die südlichste Trasse von Grimlinghausen am Rhein durch das Krurtal zur Niers bei Neersen und weiter in westlicher Richtung durch das Tal von Beberich und der Schwalm zur Maas, etwa 16 km oberhalb von Venia. Diese Verbindung bedingte jedoch zwischen dem Niers- und dem Schwalmtal bei Beberich einen Einschnitt von 6 km Länge und bis zu 30 m Tiefe, welcher dieses Projekt derart verteuerte , dass man von dieser Linienführung Abstand nehmen musste"

Der Kanal hätte dann den Hammer Bach folgend die Höhe von Bockert tief eingeschnitten durchquert. Wir übernehmen in der Beschreibung der 1806 tatsächlich gewählten Trassenführung Hageau: "Der Kanal II verläuft dann durch das Krurtal, passiert dann das Heideland und die Sumpflandschaft von Neuß, Büttgen und Schiefbahn, dessen Wasser in den Rhein und in die Niers fließen. Dann quert er diesen Fluß zwischen den Mühlen von Neer­ sen und Brochmühle, erreicht den Fuß des Hügels an seinem linken Ufer und wird oberhalb von Sümpfen weiter geführt, die sich unten in diesem Tal befinden. Der Kanal verläuft dann unterhalb von Viersen, dann unterhalb der Ebene von Süchteln und ein wenig unterhalb von Grefrath verläßt er das Tal der Niers um sich in Richtung Venia zu begeben. Er wird das Nettetal hinauf geführt bis in die Nähe der Teiche , die das Schloß Krickenbeck umgeben. Etwas weiter durchschneidet er die Landstufe, die die Täler der Nette und der Maas trennt und wird durch das Tal von Herongen durch die sumpfige Gegend von Straelen geführt. Der Kanal verläuft durch diese Moorlandschaft, wo er auf die Fasse Eugenienne trifft; dann verläuft er durch die Ebene von Venia bis zu dessen Stadtmauern, und ergießt sich bei den Befestigungsanlagen in die Maas." - Siehe hierzu auch die Farbabbildungen 1 und II sowie XIV bis XVI.

Während die vorbereitenden Diskussionen über das Projekt einer Kanalverbindung zwischen Rhein und Maas und darüber hinaus zur Schelde von 1797 bis 1808, also 11 Jahre, dauerten, erfolgte die Inangriffnahme, wohl infolge der oben dargestellten politischen Entwicklung, schnell.

Norrenberg schreibt: Im Frühjahr 1808 gerieten die Besitzer der in Aussicht genommenen Grundstücke in große Aufregung. Ingenieur Hageau war mit einer Anzahl Arbeiter angekommen, das Terrain abzustecken. Er verlangte für die Arbeiter bei den Bürgern freie Kost und Logis. Maire Preyer antwortete, dazu sei kein Bürger verpflichtet, und man verständigte sich schließlich über eine Ent­ schädigung von 15 Sous. Als aber die Arbeiter willkürlich Büsche und Zäune weghieben, um die Richtschnur nehmen zu können, kam die Aufregung der Bürger zum vollen Ausbruch. Die Piquets und Zeichen Hageau's wurden weggerissen, und, wie es scheint, suchte Hageau mit seinen Arbeitern das Weite .

Als sie Mitte Mai wiederkamen, um die unterbrochene Arbeit wieder aufzunehmen, bat der Maire in einem Placat vom 20. die Bürger, sich den Arbeiten nicht mehr zu widersetzen, und versprach ihnen beim Gouvernement eine hinreichende Entschädigung zu erwirken. Bis zum 13. Juli waren die Vorarbeiten so weit gediehen, daß an diesem Tage eine Versammlung interessirter Eigenthümer abgehalten werden konnte, an der als Gouvernementsvertreter Architekt Degodenne theilnahm, während von den Interessenten Maurermeister Heinrich Büssem zum Experten gewählt wurde. 3250,47 Aren Viersener Terrain fielen der Expropriation anheim, darunter mehrere Gebäulichkeiten, wie ein allgemein bedauerter Pavillon im sogenannten Mengenhof, für welchen sein Besitzer Johann Wilhelm Mengen alias Höges vergeblich um Prolongation des Abbruchtermines einkam. Über die unterdrückten Wege einigten sich Maire und Ingenieur mittels Vereinbarung, so sollte der Weg von Schwarzenpfuhl nach Viersen durch eine Brücke verbunden werden. Durch Verordnung vom 6. August wurde befohlen, auf 30 m von jeder Seite von der Kanallinie die Frucht wegzunehmen und weiteres Säen zu unterlassen, sowie den Hauseigenthümern sich andere Quartiere zu suchen. Für eine arme Spinnerin, die in einer barraque en ruine wohnte, musste die Stadt ein Unterkommen beschaffen . Auf eine Klage der Adjacenten hin, dass die Arbeiter die ausgeholten Erdmassen weit über die anliegenden Grundstücke hinwürfen, sicherte der Unterpräfekt in einem Schreiben vom 9. März 1809 den Beschädigten Vergütung zu. Am 3. Juli fand die Ceremonie der Grundsteinlegung in Neuss statt, wozu auch Viersen seine Vertreter hinsandte. Auf Verordnung vom 10. April 1810 musste auf Kosten der Strandeigenthümer der Damm mit Pfählen und Bäumen besetzt werden. Der Acker durfte nur bis an die Bäume bepflanzt werden, Häuser einen Meter davon entfernt bleiben".

Die Entschädigungsakten 17 enthalten die Namen der Eigentümer, Katasternummer des Grundstücks und den geschätzten Wert des Ackers, daraus resultierende mutmaßliche Entschädigung und schließlich die exakten Werte für Größe und Wert der enteigneten Grundstücke und der Entschädigungssumme. Andere Akten betreffen die genaue Vermessung ("navigation"). Die Ausschreibungstexte entsprechen weitgehend dem Text des Hageauschen Buches von 1819, aber sind nicht völlig identisch mit diesem und weichen teilweise auch untereinander ab.

Entsprechend den Ausschreibungen übernahmen Unterneh­ mer die betreffenden Arbeiten; für Viersen war der Unternehmer Cremer aus Neuß, für nördliche Teile des Kanals der Unternehmer Leydel aus Wesel zuständig . Z.B. heißt es in einer Abrechnung von Cremer 21 : „ Maison de pontonnier (= Brü­ckenwärterhaus) pres la route de Viersen a Gladbach 6.160,71 Fr.; aqueduc sous la canal de Viersen 11.023,52 Fr.". Dem­ nach war die Unterleitung des Hammer Bachs unter den Kanal wesentlich teurer als das Brückenwärterhaus . Hinsichtlich der Finanzierung folgen wir Schröteler: „ Die Kosten zu diesem Kanalbau sollten nach dem Gesetz von 1806 durch die im Bereiche desselben liegenden Departements durch einen Zuschlag zu der Grund-, Möbel- und Personalsteuer (centimes additionelles), während eines zehnjährigen Zeitrau­ mes zur Hälfte aufgebracht, und die andere Hälfte von der Staatskasse (tresor publique) zugeschossen werden. Das Roer­ Departement zahlte seine Quote mit dem Zuschuß von 4 pCt. zur Steuer. Dieser Zuschuß wurde aber von der französischen Steuerkasse noch eingezogen, als der Kanalbau längst aufge­ hört hatte" 22). Die eingeplanten Baumaterialien, Erdmassen usw. wurden von Hageau im Anhang seines Buches tabellarisch aufgeführt; ebenso die danach errechneten Kosten3 . Für die Hauseindec­ kung der Kanalhäuser war Kauber Schiefer vorgesehen, der hohe Ziegelbedarf (neben Kanalhäuser Brückenfundamente, Schleusenbauten, Durchlässe usw.) wurde durch zahlreiche, in der Nähe der Kanaltrasse errichtete Feldbrandöfen gedeckt. Diese werden von H. Ressler im Heimatbuch ausführlich beschrieben: „Auf einem eingeebneten und festgestampften Platz breiteten die Ziegler eine Rollschicht gut getrockneter Rohlinge oder schon gebrannter Steine als Basis aus. Darauf wurden Luftzüge angelegt, die mit flachliegenden Ziegeln abzudecken waren, dann folgten die Schürkanäle. Je nach Zahl der ausgesparten Kanäle erhielt man 4, 6 oder 8mündige Feldbrandöfen. Zwischen jeder der nach oben folgenden Ziegelschichten kam eine 15 bis 20 cm dicke Lage Kohlegrus, die nach oben dünner wurde und in den letzten Schichten völlig fehlte.

In die beiden obersten Schichten wurden mit Lehmmörtel Flachziegel vermauert und zur besseren Wärmehaltung mit trockener Erde abgedeckt, während die Seitenwände des Meilers mit Lehmmörtel beworfen wurde. "(...) Der Ziegelbrand (...) begann nach Anzünden des Brennstoffs in den Schürkanälen mittels Stroh und Reisigbündel (...) Nach etwa 8 bis 10 Tage erreichte das unten entzündete, von Lage zu Lage fortschreitende Feuer die Meilerdecke. Weitere 10 Tage nach Ausbrennen des Meilers konnte mit dem Auskarren der Ziegel begonnen werden (...)". Nach der Stillegung nach Einstellung des Kanalbaus wurden diese Feldbrandöfen für den Kölner Festungsbau vorübergehend wieder reaktiviert. Durch eine Entschädigungsklage und dem Urteil vom 9. September 1818 wissen wir etwas über die an Wiesen und Äcker angerichteten Schäden - In diesem Fall kam der preußische Staat für die nach 1814 entstandenen Schäden auf, auf die zuvor entstandenen wurden die Kläger an den französischen Staat verwiesen.

Es sei noch vermerkt, dass die Feldbrandziegeleien ab 1860 durch die ökonomischeren Ringöfen ersetzt wurden.


Link Inhalt

Zurück: Link Einleitung

Weiter: Link Organisation und Personen; A. Hageau