Die Jugenderinnerungen
des Fabrikwebers Wilhelm Reimes aus Lobberich
Kommentiert und ausgewählt von GÜNTER BERS
Seit einigen Jahrzehnten ist in die Geschichtswissenschaft eine in dieser Form bisher nur selten anzutreffende Problemstellung eingeführt worden, nämlich die Geschichte nicht mehr, wie es oft geschehen ist, unter dem Blickwinkel der „politischen" Geschichte zu betrachten, sondern sie als ein Teilfeld einer allgemeineren „historischen Sozialwissenschaft" zu analysieren. Ausgehend von der französischen Historikergruppe um die Zeitschrift „Annales", hat diese Forschungs- und Betrachtungsweise in Deutschland erst zögernd Eingang gefunden, obwohl seit den 20er Jahren in der „geschichtlichen Landeskunde" ganz ähnliche Ansätze vorlagen. Diese „historische Sozialwissenschaft" beschäftigt sich vor allem mit der Erforschung der Vergangenheit „von unten" her, d. h. aus dem Blickwinkel der „kleinen Leute", der Unterschichten, Minderprivilegierten, der Entrechteten und der Leidenden. Von diesem Fixpunkt aus verliert etwa die politische Geschichte ihren Stellenwert, die Taten der „großen" Persönlichkeiten in Staatsführung, in Kirchen und Wirtschaftsverbänden werden gleichsam uninteressant. Von deren Handlungen haben bislang die Geschichtsbücher berichtet, während von denjenigen, die zum „Objekt" der Geschichte geworden waren, keine Nachrichten vorliegen. Dabei umfaßt dieser Personenkreis den ganz überwiegenden Teil der Bevölkerung. Aufgabe der Geschichtsforschung, die sich die Perspektive des „von unten her" zu eigen machen möchte, ist nun, das Alltagsleben der „Namenlosen" zu rekonstruieren, ihr Denken, Fühlen, Hoffen und Handeln darzustellen. Es geht also darum, authentische Zeugnisse zu entdecken, die uns vom Leben der armen Bauern, der Knechte und Mägde, der um das Existenzminimum kämpfenden Handwerker, des Dienstleistungspersonals (Tagelöhner, Diener, Dienstmädchen und dgl.) Kenntnis geben können. Für das 19. und 20. Jahrhundert ist es wichtig, d.ie Lebensbedingungen einer neu entstandenen gesellschaftlichen Schicht bzw. Klasse, des Industriearbeiter-Proletariats, aufzuhellen. Eine Möglichkeit dazu bieten die sog. Arbeitermemoiren. Es handelt sich hier um eine Gruppe von schriftlichen Selbstdarstellungen, die in größerer Anzahl seit der Jahrhundertwende entstanden sind und die einen unmittelbaren Einblick in Lebenswirklichkeit und Lebensgefühl der modernen Arbeiter gestatten. Natürlich ist die Interpretation und Wertung solcher Arbeiterlebenserinnerungen nicht unproblematisch. Zum einen sind sie, wie dies schon ihre Bezeichnung „Erinnerungen" sagt, in einem Rückblick niedergeschrieben worden, d. h. die dargestellten Ereignisse und Eindrücke waren schon im Augenblick der Niederschrift Geschichte, d. h. unwiederbringlich vergangen. Hier können sich bereits - den Schreibern unbewußt - Fehler eingeschlichen haben, die dann geeignet sind, die Authenüzität solcher Berichte in Frage zu stellen. Weiter besteht die Gefahr, daß solche Lebenserinnerungen bewußt oder unbewußt der eigenen Rechtfertigung dienen, ein mögliches Fehlverhalten verdecken· oder verharmlosen sollen usw. Dies gilt vor allem für diejenigen Autoren, die zu parteipolitischen oder gewerkschafllichen Funktionären der Arbeiterbewegung geworden sind. Ein Vergleich einer größeren Anzahl solcher Erinnerungen von Angehörigen der Arbeiterschaft wird aber solche möglichen Fehlerquellen herauszufinden helfen. Seit wenigen Jahren liegt - erstmals im deutschen Sprachraum - eine solche Dokumentation von zahlreichen Arbeiterlebenserinnerungen vor, die einen guten Einblick in die skizzierte Fragestellung ermöglicht. Für das Rheinland sind bis jetzt nur ganz wenige Arbeiterlebenserinnerungen bekannt geworden. Möglicherweise hängt dies mit dem bis jetzt noch nicht befriedigend erklärten Phänomen zusammen, daß die publizierten .Arbeitermemoiren meist von Autoren stammen, die in den sozialistischen Arbeiter-Organisationen „politisiert" worden sind. Von diesen Organisationen wurden Arbeitererinnerungen oft als „Waffen im Klassenkampf" eingesetzt (bekanntes Beispiel: Erinnerungen einer Arbeiterin [von Adelheid Popp ], 1912). Lebenserinnerungen christlicher Arbeiter sind noch nicht publiziert worden.
Schauplatz eines der vereinzelt bekannt gewordenen rheinischen Arbeiterlebens ist die Ortschaft (Nettetal-)Lobberich. Hier lebte in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts der Fabrikweber Wilhelm Reimes. 1920 beschrieb er in einem in Dresden veröffentlichten, jedoch fast unbeachtet gebliebenen Buch u. a. seine rheinische Jugend. Die eben erwähnte Dokumentation von Emmerich wies auf Reimes hin, ohne den Ort seines Wirkens („bei Düsseldorf") genauer lokalisieren zu können. Zusammen mit den Erinnerungen eines Textilarbeiters aus Euskirchen ist die Niederschrift des Wilhelm Reimes jetzt erneut veröffentlicht worden. Reimes, 1873 in Lobberich als Sohn eines Fabrikwebers geboren, vermittelt in der Schilderung seiner Jugend ein eindrucksvolles Bild der dürftigen Lebensumstände eines niederrheinischen Arbeiters. Das geringe Einkommen des Vaters veranlaßt diesen, sich zeitweise ais Wanderuhrmacher einen Nebenverdienst zu verschaffen. Eine große Hilfe ist der Besitz eines eigenen, wenn auch kümmerlichen Häuschens und eines Gartens, ein Privileg, das z. B. die Arbeiter im Ruhrgebiet nur in den seltensten Fällen genossen. Ein Hering einmal wöchentlich ist für die vielköpfige Familie ein besonderer Leckerbissen. Der Vater interessiert sich nicht für Politik, ein einziges Mal in seinem langen Arbeitsleben hat er sich an einem Streik beteiligt. Die Realität der Arbeitswelt ist, wie es scheint, dem Kind nicht recht zum Bewußtsein gekommen; von der seit 1845 in Lobberich florierenden Textilindustrie erfährt der Leser nur wenig. Die fromme Mutter geht ganz in ihrer Familie auf, ihr einziges Vergnügen ist ein-, zweimal im Jahr der Besuch einer Theatervorstellung eines in Lobberich 1876 gegründeten Klubs. Der Schulalltag wird von Wilhelm Reimes als bedrückend empfunden, eine starre, durch körperliche Züchtigung aufrechterhaltene Disziplin scheinen der pädagogischen Weisheit letzter Schluß gewesen zu sein. Die Freizeit des jungen Reimes wurde oft durch häusliche Pflichten, wie z. B. die Beaufsichtigung der kleineren Geschwister eingeschränkt. Bereits frühzeitig wird das Lesen zu seiner Leidenschaft: Heftchenromane und die Borromäusbücherei der katholischen Pfarrgemeinde erschließen ihm eine unbekannte Welt.
Mit 14 Jahren wird Reimes Arbeiter, nach einem kurzen Gastspiel in einer Lobbericher Kartonagenfabrik wird er wie sein Vater Fabrikweber. Im Kontakt mit seinen Arbeitskollegen erhält sein bisher „heiles" Weltbild die ersten Risse; in einer weitgehend nach anderen moralischen Normen lebende:l Kollegenschaft konnte die konservativ-restriktive Weltanschauung seines Elternhauses sich nicht durchsetzen. Mit einem gewissen Nachholbedürfnis an Lebenslust stürzt Reimes sich in die Sonntagsvergnügun.gen, zu denen die Kirmessen der umliegenden Ortschaften reichlich Gelegenheit bieten. Seine zweijährige Militärzeit, auf die er zunächst sehr stolz war, führt zu einer weiteren Entfremdung von der heimischen Religions- und Kirchenpraxis. Als er in Lobberich die Bekanntschaft eines kleinen Zirkels von damals verfemten Sozialdemokraten macht, wird er - von diesen herzlich und freundschaftlich aufgenommen - nach einiger Zeit Anhänger der „Partei des Umsturzes", weil sie nach seiner Meinung die Sache der Gerechtigkeit zu der ihren gemacht hat.
Reimes baut in Lobberich eine Ortsgruppe („Filiale") des sozialdemokratischen Textilarbeiter-Verbandes auf. Er erwirbt sich solche Verdienste - hat möglicherweise aber auch wegen seiner Jugend weniger Rücksichten zu nehmen - daß er bald zum oft gewählten Delegierten auf Gewerkschaftskongressen wird. Mit diesem Lebensabschnitt schließt der Bericht des Wilhelm Reimes über seine Jugend am Niederrhein.
Bald fungiert er als hauptamtlicher Sekretär der Textilarbeiter mit Sitz in Krefeld. Später ist er in der sozialistischen Bildungsarbeit tätig, 1915 wird er Sekretär der SPD-Reichstagsfraktion, um nach dem 1. Weltkrieg in SchleswigHolstein für die Arbeiterwohlfahrt zu wirken. 1942 stirbt er in Bonn, wohin er sich nach Erreichen der Altersgrenze zurückgezogen hatte. Im folgenden sollen einige Auszüge aus den Jugenderinnerungen von Wilhelm Reimes einen Einblick in das Alltags-Leben „kleiner Leute" in Lobberich im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts ermöglichen:
... Mein Vater ist als Fabrikweber in meinen Geburtsort gekommen und hat dann über vierzig Jahre in ein und derselben Fabrik gearbeitet. Die Fabrikbesitzer sind während der Zeit steinreiche Leute geworden. Ein einzigesmal hat mein Vater sein Arbeitsverhältnis durch einen Streik unterbrochen. Ich erinnere mich noch, wie damals wir Jungens draußen an den Fenstern des großen Saales hingen, worin die Streikversammlungen stattfanden. Der Streik brach aus, ohne daß man von Führern und Organisation auch nur dem Namen nach etwas kannte. Ein paar Führer entwickelten sich urwüchsig aus der Masse heraus und entfalten mit ihrem natürlichen Redetalent Stürme der Begeisterung in der Bevölkerung. Als aus der nächsten Großstadt ein paar Sozialdemokraten versuchten, Einfluß zu gewinnen, wurden sie schroff zurückgewiesen: „Wör habbe genn Rue nöddig - wöör können os Saak selver föhre!" Nach einigen Wochen Dauer war der Kampf am Streikbruch verloren, den einzelne Leisetreter schon sehr bald verübten und die mit ihrem Beispiel dann ganze Trupps ansteckten. Wut und Schmerz im Herzen mußten schließlich selbst die Standhaften, zu denen auch mein Vater gehörte, sich wieder zur Arbeit melden - einzeln für einzeln; ein Heer geschlagener Kämpfer, die nun gedemütigt wurden. Die Hauptführer blieben auf der Strecke; ihrer ein paar wurden nach der Großstadt, einer übers Weltmeer nach Amerika verschlagen. - Seitdem hat sich dann das Verhältnis meines Vaters zu der Fabrik nicht eher wieder gelöst, als bis sich ihr großes Tor für immer hinter ihm schloß. Aber da lag der Schnee des Winters ihm über Haar und Bart gebreitet und der Kassenarzt hatte ihn für gänzlich invalide erklärt. In seinen Blütejahren, während er Samt oder samtne Bänder webte, stand meine Mutter daheim jede abkömmliche Minute an der Spulmaschine. Abends aber spulten beide. Wenn andre sich zur Ruhe legten, dann stand mein Vater und trat das Schwungrad, während meine Mutter mit geschickten Händen die Spindeln und Kronen um so leichter bediente. Bis nach Mitternacht tönte gar vielmals bis hinauf in unsre Schlafkammer das fleißige Spindelsurren. Morgens um 6 Uhr aber fing beider Tagewerk wieder von neuem an. Bei all dem sang meine Mutter, daß es schallte. Ging die Fabrik schlecht, so daß in Monaten der völligen oder teilweisen Arbeitslosigkeit die Löhnungen kleiner und kleiner wurden, so war mein Vater bemüht, den Ausfall durch fleißiges Uhrenreparieren auszugleichen. Als „fahrender Uhrmacher" zog er dann auf den Bauernhöfen der Umgegend herum und mancher rostigen Bauernuhr hat er wieder auf den Schwung geholfen. Aber trotz allen diesen Mühen blieb ärmlich die Lebenshaltung. Wenn wir Kinder ein halbes Pfund Möhrenkraut oder gar Sirup holen konnten - o, dann war Festessen für uns im Hause. Einen einzigen Hering für Freitags-Mittags oder als Abendzugabe wußte meine Mutter in soviel Stücke zu zerlegen, daß er für die ganze große Familie langte. Zum Trost für die Kleinheit der Stückchen wurden wir dann über den hohen Nährwert so eines Herings belehrt. Das leuchtete mir ein. Doch Zweifel haben mir immer die in derselben Richtung sich bewegenden Darlegungen meiner Mutter über die Gesundheitsschädlichkeit dick gestrichener Butter bereitet.
Samstags abends, wo die Fabrik „ vorzeitig", nämlich um sieben Uhr, geschlossen wurde, mußten wir Kinder dem Vater sein „Dröppken" holen - für zehn Pfennig Kornbranntwem. Unter späteren „besseren" Verhältnissen wurden fünfzehn Pfennig für diesen Posten ausgeworfen. Als weitere Ausgabe leistete er sich jede Woche ein Sechzehnpfennigpäckchen Rauchtabak. Und dann frönte er von Jugend an der Vogelliebhaberei. Er war der „Vogelsprache" kundig wie nur einer und fing sich mit Meisterschaft jeden Vogel im Walde, den er haben wollte. Bis heutigentags sind eine Anzahl Singvögel seine steten Stubengenossen. Früher aber, wenn's ihrer zu viele wurden, erregten oft die Futtergroschen Bedenken und Vorhaltungen. Meine noch junge und so lebensfrohe Mutter aber verzichtete für sich so ziemlich auf jedes Vergnügen, das mit einer Extraausgabe verbunden war. Höchstens daß sie einmal im Jahr ins Theater ging, wenn die „Thalia"': „Die Räuber auf Maria-Culm" oder sonst ein hervorragendes Stück aufführte, aber sonst ging Mutter gänzlich in uns Kindern auf.
Die Aufführungen der Theatergesellschaft Thalia waren Höhepunkte im einfachen Leben von Reimes' Mutter "
Die Theatergesellschaft „Thalia" wurde 1876 gegründet. Unterlagen über sie im Kreisarchiv Viersen, GA Lobberich VII Nr. 155 (Statuten) und VII Nr. 157. Sie veranstaltete des öfteren „Wohltätigkeitsauffühmngen" „zum Besten armer Communionkinder". Der 1. Platz kostete 75 Pfennig, der 2. Platz 50 Pfennig Eintritt.
Wie sauber und vielfältig - und oft wie bunt - hat sie uns die Kleidchen und Hosen geflickt. Und wie lief ich in zu klein gewordenen Stiefeln des Sonntags mir immer wieder die Füße wund, so daß die Male noch heute fühlbar sind, weil wir in unser beschränkten Lage und Sparsamkeit uns doch nicht dazu verstanden, „so schöne Stiefel" vorzeitig abzusetzen.
Wir kamen trotz unserer Liebe zur Heimat allen Ernstes auf den Gedanken, nach Amerika auszuwandern. Diesen Schritt hatten mehrere aus unserer Gegend schon unternommen, und von allen kam die Nachricht zurück, es ginge ihnen außerordentlich gut in der neuen Welt. Auch mein Vater hatte deswegen schon mit dem Konsul in Crefeld Rücksprache genommen, und ich bin mit zum Agenten nach einem Nachbarort gewesen, der die Überfahrt vermitteln sollte. Aber schließlich wurde dann doch von dem Plan Abstand genommen, nachdem er eine Zeitlang immer von neuem in der Familie hin und her überlegt worden war. Das kleine Eigentum, das Häuschen, bewährte sich als das Band, das uns zu fest mit der Heimat verknüpfte.
Sowie ich etwas herangewachsen war, mußte ich mit in den Dienst des Erwerbs. Ich bekam meine kleinen Geschwister aufgehalst und wurde für einen stetig wachsenden Teil von Hausarbeiten angelernt. Ununterbrochen ließ meine Mutter derweilen die Spulmaschine surren. Wie verfluchte ich da das Kinderkriegen und die ewige Kinderbewahrerei! Aber ehe ich mich dessen versah, war wieder etwas los im elterlichen Schlafzimmer. Einmal, als wieder ein Kleines gekommen, bin ich aus lauter Trotz mehrere Tage lang nicht zu meiner Mutter gegangen. Als ich mich endlich zu ihr in die Kammer schlich, warf ein Sonnenstrahl durch die halbgeschlossenen Fensterläden etwas Licht herein. Meine Mutter lag im großen Bette, noch viel lieber und mütterlicher als sonst, und lächelte, daß ich nun endlich kam. Da barg ich heulend meinen Kopf in die warmen Kissen. Und als sie mir dann das kleine Bündelehen zeigte, das neben ihr lag, drohte ich laut schluchzend, allein nach Amerika zu gehen, wenn noch ein einziges Kind kommen sollte. Aber sie kamen alle, in ziemlich. regelmäßigen Zwischenräumen, und hatten in meiner Obhut schlecht und recht sich wohl zu befinden. Das jedesmalige Kleinste wurde mir in Kissen auf mein Schubkärrchen gepackt, und dann schob ich los damit. Hatte die Ausfahrt mir lange genug gedauert, lenkte ich wieder heimwärts zu. Aber so leichten Kaufes war ich nicht entlassen. Unzähligemal habe ich mit einem Kindchen auf dem Arm unsere Stube durchmessen, immer mit dem Gedanken: „ob ,sie' es mir noch nicht abnehmen wird?" Schließlich stellte ich mir ein Pensum: noch fünfundzwanzigmal auf und ab! Fünfundzwanzigmal gingen vorbei, und meine Mutter an der Spulmaschine vertröstete mich. Noch fünfundzwanzigmal! - immer noch nichts. Noch fünfzigmal! Bis die Arme mir lahm und lahmer wurden und ich das Kindchen andauernd so herzhaft kniff, daß sein Schreien kein Ende mehr nahm und meine Mutter es wohl oder übel nehmen mußte. Im Nu schoß ich dann zur Tür hinaus.
Draußen „ut dö Sonkskul", dem großen idealen Spielplatz vor unserem Hause, tönte ja, so verlockend das Lärmen meiner Altersgenossen. Es knatterten die Gewehrsalven: krekk, krekk! - es tobte die Schlacht, und man ging gerade daran, sich handgemein zu machen; oder das Pferdespielen war im schönsten Gange. Das waren Beschäftigungen meinem Geschmacke angemessen. Spielen, spielen - darauf war meine Sehnsucht und mein ganzer Sinn gerichtet. ...
Denn auf die Dauer brachte jeder Tag seinen Kreis von Pflichten. Morgens vor der Schule hatte ich, um den Eltern, die bis spät abends gespult hatten, etwas längeren Schlaf zu vergönnen, den Ofen anzumachen und Kaffee zu kochen, den F.rühstückstisch zu decken, die Stube zu kehren, den Blumen am Fenster Wasser zu geben und das Vieh zu füttern. Gewöhnlich hatten wir zwei Ziegen im Stall; die hatte ich mit warmem Brei zu versorgen, oder ich hatte etlichen Gänsen Futter zu manschen und die Ställe mit frischer Streu zu versehen. Das war schon allerlei vor Beginn der Schule. Die Ziegen brachten es mit sich, daß mein Vater und ich sommerabends in Bruch und Gesträuch herumkrochen. Wenn die Schatten der Nacht sich senkten, sah man uns beide einen großen Sack oder Korb voll frisches Grünfutter nach Hause schleppen. Ich habe hinterrücks manche Handvoll guten Klee den Bauern aus den Feldern gerauft und empfinde bis jetzt keine Reue darüber.
Später haben wir uns selbst ein Stückchen Wiese gepachtet. Und wieder hat uns das mit Stolz erfüllt. Wir pachteten gleichfalls immer ein Stück Kartoffelland. Auf dem hat im Morgengrauen und im Abendschein 'mein Vater das Vergnügen gehabt, auf die Schippe zu springen. Später bekam auch ich die Ehre. Das hat manchmal die Hände rauh und rissig gemacht, daß manch Seidenfädchen im Webstuhl sich daran verfing. Solange ich als Junge die Schippe noch nicht regieren konnte, war ich Kartoffelleser oder verwertete als Vorspannpferd vor dem Schubkarren meine Kräfte. „Treck, treck!" (Zieh, zieh!) rief mein Vater hinter mir, wenn das Karrenrad tief durch den lockeren Ackerboden schnitt. Wurde ich dann für meine Kraft gelobt, hielt ich mich der heldenhaftesten Zugleistungen für fähig. Was hat mein Vater mir von seiner Geschicklichkeit nicht alles beigebracht! Er war ja in fast allem noch „sein eigener Schreiner, Maurer, Schmied und Zimmermann" . Es bereitete ihm Schmerz, daß ich ihm in dem einen widerstand: mich in die Künste der Uhrmacherei einweihen zu lassen. Er hat immer wieder den Versuch dazu gemacht, und ich habe manches Uhrwerk auseinandernehmen und die Rädchen von Staub und Schmier reinigen müssen. Es hat nichts genützt, das Uhrmachen war nichts für mich.
Die Maurer- und Pliesterarbeiten jedoch, die ich unter seiner Anleitung auf unserem Hofraum, am Schuppen usw. als älterer Schuljunge schon verrichtete, vermögen heut noch für sich selbst zu sprechen. In der Schule kam ich, trotz aller Haushaltarbeiten ·und obwohl ich nicht weniger als die anderen die Bank zerschnitzte, mit Leichtigkeit voran. Besonders in Bibel und Katechismus wußte ich wie kein zweiter Bescheid. Ich saß ein Jahr vor der festgesetzten Zeit schon in der Oberklasse, und hier hätte ich den häufig bekommenen ersten Platz wohl meistens innegehabt, wenn ich nicht an jedem wilden Jungenstreich mich beteiligt hätte. Wir waren·- oder besser: wurden - als zehn- bis vierzehnjährige Jungen alles andere als Muster an guter Gesittung, woran ich ein gutes Teil Schuld den Lehrern selber in die Schuhe schiebe, die in der Oberklasse ein maßloses Prügeln zum Haupterziehungsmittel machten. Im übrigen aber stand damals die Bevölkerung bei uns in der Kultur im allgemeinen tiefer als heute, und das färbte natürlich auch ab auf uns Jungens. Damals konnte man „Nationalitätenhaß" noch von Dorf zu Dorf antreffen, und die Kirmessen und dergleichen brachten oft schwere Schlägereien, weil Nachbarorte als feindliche Gebiete galten.
Schon wir Kinder lieferten auf der Grenze mit dem Dorfe B[reyell] wahre Steinwurfschlachten. Es war Tradition, daß, wenn ein Junge aus L[obberich]. sich mit einem aus dem jenseits des Sees belegenen B[reyell]. begegnete, sie sich streiten mußten. Diese Verhältnisse sind heute nicht mehr bei uns anzutreffen, infolge der immer weiteren Verbreitung des Fabrikwesens in der ganzen Gegend. Die Menschen, die früher auf ihren Dörfern abgesondert blieben und mit ihrem engen Gesichtskreis sich dann bei den vereinzelten gelegentlichen Zusammenkünften mit Mißtrauen und Feindseligkeiten behandelten, kamen durch die Fabriken in alltägliche Berührung. Sie lernten sich kennen, und heute stehen sie sich nahe, sie sind durch die gemeinsamen Bande der Arbeit miteinander verbunden und haben die alten traditionellen Dorffeindschaften überwunden. Damals aber betrachteten sie sich noch wie die Angehörigen feindlicher wilder Stämme, und die Kraftleistungen der Dorfhelden fanden bei uns heranwachsenden Knaben volles Verständnis, und kaum eine einzige, die wir nicht nachzuahmen strebten.
Dazu kam dann das rauhe Vorgehen der Lehrer in der oberen Klasse, und das machte uns im großen und ganzen zu recht ruppigen Bengeln. Trotzdem: was an Gutem aus unserer Dorfschule zu holen war, nahm ich mit ins Leben; aber auch eine gehörige Portion religiöser Verhetzung.
Hierin erhielt übrigens die Schule durch meine Eltern kräftige Unterstützung. Auch sie - die auch heut' als Sozialdemokraten noch religiös und christlich, aber im wirklich guten Sinne, sind - waren damals ziemliche Fanatiker. In so manchem Anliegen ist damals mein Vater über die Felder zum Muttergotteskapelchen nach Dülken gepilgert, und oftmals begleitete ich ihn. Als einmal eine Mutter eine Geschwulst ins Auge bekam, wurde zum geweihten Wasser aus einem Gnadenort Zuflucht genommen, und großer Familienjubel herrschte, als schließlich das Auge besser wurde. Im Mai und Oktober beteten wir den ganzen Monat lang nach dem Abendessen Wundmale gebetet. Ich denke noch immer an die ungeheure Langeweile, die ich als Kind dabei empfand, und an die Freude, wenn alles vorüber war.
Wie es mit dem Aberglauben stand, dafür ein krasses Beispiel: meinem Schwesterchen, das vom Zahnen arge Beschwerden hatte, konnten nach dem allgemeinen Landesglauben nur die Pfötchen eines lebendigen Maulwurfs helfen. Mein Vater und ich bekamen es deshalb auf, einen Maulwurf zu fangen. Als uns das gelungen war - es war ein schöner samtschwarzer Geselle - schnitt meine Mutter ihm lebendig die Pfötchen ab und hing sie in einem Leinensäckchen dem kleinen Kinde als Amulett um den Hals. Den Maulwurf warf sie in die Jauchegrube, wo er schwamm, bis seine Leiden ein Ende fanden . Diese Tat meiner Mutter erfüllte mich so mit Grausen, daß - wie schnell man sonst in diesem Alter auch vergißt - ich für längere Zeit einen wahren Haß auf sie hatte...
In diesen Jahren wurde ich auf einem Wege mit vielen Schwierigkeiten auch Schritt für Schritt für den Sozialismus reif. Wir hatten an unserem Ort einen kleinen Kreis von Leuten, die dem Sozialismus anhingen. Alle „Gutgesinnten" rückten weit von ihnen ab, und je frömmer die Leute, um so toller waren die Vorstellungen, die sie über das Tun und Treiben der „Roten" hatten. Die hielten aber in ihrer kleinen Gemeinde fest zusammen und verstanden es, sich neue Freunde zu werben. Von mir hatten sie es schon heraus, daß ich über Gott, die Erschaffung der Erde, über Recht und Unrecht in der Welt anders dachte als die liebe Geistlichkeit es haben wollte, und ihrer zwei - mein Onkel und sein alter Freund, ruhige, einwandfreie Arbeiter - nahmen mich in die Schule und begannen durch Broschüren auf mich einzuwirken. Sie gaben meinem Leben den großen inneren Wendepunkt! Dank euch, ihr beiden! Meine größte Schwierigkeit in der nun beginnenden Entwicklung war die wirkliche innere Überwindung all der in mir selbst liegenden und dann der von meiner Umgebung geltend gemachten religiösen Bedenken. Für die wirtschaftlichen und politischen Ziele des Sozialismus, so wie sie in unseren Köpfen lebten, war ich bald Feuer und Flamme. Es war keine Erkenntnis mit geschichtlicher oder sonstwie theoretischer Begründung; in diesem Lichte sah ich den Sozialismus erst in späteren Jahren; ich ließ mich leiten von dem naturhaften Gefühl, daß es Pflicht sei, gegen das Unrecht zu kämpfen, das ich erkannte, und dies Gefühl brachte ich in Einklang mit dem Besten meines eingewachsenen religiösen Guts, das in mir lebte, trotz der Kirchengegnerschaft. Das tiefreligiöse Büchlein Josua Davidsohn, das Nathalie Liebknecht aus dem Englischen übersetzte, machte auf mich einen solchen Eindruck, daß es mir heute noch frisch in der Erinnerung steht.
Ebenso wußte ich die alten Broschüren von Liebknecht, Bebel und Bracke alle mit dem Glauben an Gott und ein Jenseits zu vereinen. Ich hatte das Bewußtsein, daß die Religion nicht gegen diese Anschauungen sei. Die in ihnen lebende Gesinnung entsprach mir dem Gehote der Menschenliebe, dem Ersten und Höchsten, das nach meiner Meinung alle Religion durchziehen sollte. Diese Gesinnung erschien mir mit dem Willen eines gerechten Gottes völlig in Übereinstimmung. Ich führte oft aus, daß gerade ein innerlich religiöser Mensch im Sozialismus alles Gute findet; ich wurde von seiner sittlichen Vollkommenheit und Unantastbarkeit tief überzeugt. In dieser Weise beschäftigten sich meine nach Wahrheit und Erkenntnis ringenden Gedanken wieder und immer wieder. Immerhin quälten mich nach der Richtung nicht lange Zweifel; aber es kamen die Fragen nach dem Gott und dem Jenseits selbst herauf und wuchsen zu neuen Schranken. Tief wühlte mich Bebels „Christentum und Sozialismus" auf, jene Auseinandersetzung mit dem Kaplan Hohoff, aus der die Zentrumsführer so oft den Sinn des Wortes „Christentum und Sozialismus stehen sich gegenüber wie Feuer und Wasser" fälschten; mir gerieten Professor Dodels "Moses oder Darwin", "Konrad Deubler, ein Bauernphilosoph", Ernst Häckels „Welträtsel" in die Hände. Da habe ich mit den Fragen „Gibt es einen Gott, ein Jenseits?" innerlich schwer gerungen. Aber auf dem naturwissenschaftlichen Wege, auf den ich mich zumeist verließ, kam ich nicht zum Ziel, und das Verständnis für Bücher, die das Entstehen und Werden der Religion entwicklungsgeschichtlich und vom Boden der materialistischen Geschichtsauffassung aus beleuchten, erschloß sich mir erst in viel späterer Zeit.
Mir blieb damals immer als letztes Ergebnis, daß man über die letzten Dinge nichts wissen kann; aber mir genügte auch die Überzeugung, daß ich mit meinem Sozialismus vor Gott bestehen könne, wenn es ein Jenseits und eine Vergeltung geben sollte. In diesen Kämpfen um das halbfertige, unvollendete Neue, das ich mir einverleibte, hatte ich keinen eifrigeren Gegner als meine Mutter. Manche Stunde der Nacht haben wir beide debattiert, und oft war es gegen Morgen, wenn wir uns trennten, aber ohne je uns überzeugt zu haben. Ich glaube ja, daß von ihrem alten, frommen, schlichten Glauben damals auch manches in die Brüche ging. Aber sie hatte den Erfolg, daß ich die äußere Zugehörigkeit zur Religion, den sonntäglichen Kirchgang, noch lange beibehielt, als ich innerlich mit ihr zerfallen war und ehrlicherweise nicht mehr in die Kirche hineingehörte. Manchmal habe ich in einem Kirchenwinkel eine sozialistische Broschüre gelesen; zuletzt aber markierte ich den Kirchgang nur noch und ging spazieren während der Zeit. In diesem Konflikt, der entstand aus dem großen tiefen Sehnen, wahr zu sein und den hundert ängstlichen Rücksichten, die man an kleinen katholischen Orten auf dem Lande nimmt, vor allem aber der Liebe zur Mutter und der Scheu, ihr und den liebsten Angehörigen den großen Schmerz meines völligen Bruchs mit der Kirche anzutun, mußte erst der letzte Tropfen fallen. Als der böse Zwiespalt ausgereift war, genügte ein nebensächliches Vorkommnis, um den Anstoß zur Entscheidung zu geben - ein viel frommerer Mensch als wir Genossen sagte uns in einem Gartenlokal, wo wir friedlich beisammen saßen, einen ganz gemeinen Schimpf ins Gesicht. Wir haben uns mit äußerster Selbstbeherrschung entfernt, um einen öffentlichen Streit zu vermeiden. Aber als ich nach diesem Vorfall nach Hause kam, erklärte ich: von jetzt an spart euch alle Mühe, in der Kirchenfrage noch länger auf mich einzuwirken - ich mache Schluß mit der bishe:rigen Rechnungsträgerei - ich zeige von jetzt an auch äußerlich, daß ich mit diesen Frommen nichts mehr zu tun haben will! Von da an bin ich offen aus der Kirche weggeblieben.
Was ich damit meiner Mutter antat, wird der begreifen, der die Menschen kennt, wie sie als unberührte Katholiken bei uns auf dem Lande wachsen können, der ihre Überzeugung von der unbedingten Notwendigkeit der Religion und ihren felsenfesten Glauben an das Glück im besseren Jenseits kennt. Für meine Mutter war ich ·auf dem Wege, mich um das Höchste zu bringen, was sie mit aufopfernder Hingabe und eigenem Beispiel mir ihr Leben lang hatte erschließen wollen. Nun würde ich für den Himmel, diesem Ziel des ganzen Lebens, verloren sein, und für die Erde betrat ich eine Bahn, die nur abwärts führen konnte in Verkommenheit. Und diesem Entschluß stand sie nun völlig hilflos gegenüber. Weder ihre Tränen noch ihre Bestürmungen konnten mich wieder zurückführen zum alten... O, für mich war der Weg nicht so leicht wie vielfach der unserer Stadtjugend von heute, die in der Luft des Elternhauses so „selbstverständlich" in den Sozialismus wächst wie die Menschen in meiner Heimat christlich wurden...
Zwanzig inhaltsreiche Jahre trennen uns von dieser Zeit, und längst ist auch meine Mutter von ihren damaligen Sorgen frei. Wir stehen uns sehr nahe. Über das alte Problem haben wir uns immer noch nicht geeinigt, aber wir schauen lächelnd auf die damals ausgestandenen Nöte; sie traut dem lieben Gott zu, daß er mit den Sozialdemokraten ein Einsehen hat. Mit meinem Vater hatte ich dagegen fast nicht zu kämpfen. Auch mit ihm habe ich damals ungezähltemal besprochen, was mir das Herz bewegte. Aber merkwürdig - während ich glaubte, ihm mit den Anschauungen aus dem Kreis meiner Genossen oder aus meinen Broschüren etwas ganz Neues zu geben, waren ihm diese Gedankengänge meist gar nicht fremd. Obwohl er nur wenig las, hatte er sich mit diesen Fragen doch längst beschäftigt, und manches, was mir eine neue Errungenschaft bedeutete, entwickelte er mir nach eigener Auffassung, und sein ruhiger klarer Verstand schloß mir dabei neue Türen auf. Diese Aussprachen mit ihm ließen mich in manchen meiner neuen Gedanken, wenn sie mich noch zweifelnd bewegten, gefestigt und erst aktiv werden. Auf die Dauer, je mehr ich in die sozialistische Literatur eindrang, bin ich dann ja in vielen Fragen der Gebende geworden, aber zunächst war ich ganz erstaunt über die selbständige eigene Weltanschauung, die dieser stille Mann sich gebildet hatte und die ihn, obwohl er an seinem religiösen Glauben festhält, zu einem sicheren Wähler unserer Partei macht...
Mir kommen immer noch, wenn ich in Wald und Fluren meiner Heimat auf den alten Wegen gehe, mit Rührung wohl die alten Themen in den Sinn, die einst Sonntag für Sonntag auf unseren Spaziergängen rund um den See herum unseren Diskussionsstoff bildeten. Ich sehe wie wir uns ereiferten, uns verständigten, uns freuten, daß wir uns verstanden, und ich sehe auch die Stationen in Bruch und Feld, wo wir rasteten „on en Dröppken dronken"...
Unseren Zentralpunkt aber und die eigentliche Hochschule des Sozialismus, die hatten wir in einem Fischerhaus, bei einem Junggesellen, der die Fischerei auf dem See gepachtet hatte und mit seiner Mutter und der starken Familie seines Bruders unter einem Dache lebte. Alter verstorbener Wilhelm - wie oft muß ich Deiner gedenken und des Lebens in Deiner Junggesellenbehausung! Es war uns nicht möglich, sozialdemokratische Besprechungen oder gar eine Versammlung in irgendeinem Wirtshause abzuhalten. Vor Angst, denunziert und geschädigt zu werden, wagte kein Wirt es, uns mit unseren freieren Regungen in seinen Räumen zu dulden. Da man uns aber als Sozialdemokraten nicht haben wollte, verzichteten wir auch sonst darauf, den Wirten unsere Groschen hinzubringen. Wir besprachen alles, was wir zu erledigen hatten, in privaten Zusammenkünften. Und unsere Stammburg war da vornehmlich das Fischerhaus. Da saßen wir im Sommer alle beisammen im Garten und disputierten unterm großen Birnbaum oder unter den Büschen und dem Weidengezweig. Um uns hingen die Fischergeräte, die Netze und Schnüre zum Trocknen, es umfing uns der Fischgeruch und der kräuterige Duft von den Ufern des Sees. Wir saßen in Hemdsärmeln auf dem umgestülpten Fischer „ troog", auf Stühlen, auf einer Bank, lagen im Grase - wie wir es am bequemsten fanden. Die Leute, die uns über dem Heckenzaun sahen, sagten: „Da sind die Roten wieder alle beisammen." Aber der See glitzerte und funkelte mit seinen kleinen blitzenden Wellen, und wir fanden, daß wir uns schöner und besser nirgends hätten versammeln können. Vielleicht war es doch noch schöner des Winters im engen Junggesellenstübchen. Denn in diesem Stübchen ging so recht etwas von dem unverwüstlichen sonnigen Wesen seines Besitzers auf uns alle über. Wenn wir alle versammelt waren, hatten wir kaum soviel Platz, die Beine ordentlich auszustrecken. Mit unseren Pfeifen hatten wir es bald so vollgeraucht, daß ab und zu Tür und Fenster geöffnet werden mußten, um den Aufenthalt noch erträglich zu machen. In diesem Stübchen aber richteten wir uns sogar einen Gesangverein ein; denn der Alte war auch Musiker und spielte bei den Kirmessen auf. Keiner von den Freunden, die bei ihm aus- und eingingen, wird sein Bild vergessen, wie er aufrecht, im weißen Schnurr- und Knebelbart, mit seinem hellen Tenor uns alte Lieder zur Gitarre sang! Ich rühre diese Saite nur leis und wie hell klingt sie an! ...
In dieser Stadt [Krefeld] standen nun die Textilproleten, die seit langem hart um das Dasein kämpften, auf und erregten die Öffentlichkeit durch eine Kette erbitterter Lohnbewegungen und Streiks. Wir auf dem Lande horchten auf; wir sprachen in den Fabriken fast von nichts anderem, und die Namen der fähigen. unermüdlichen Arbeiter, zum Teil bürgerlicher Parteirichtung, vor allem aber der „Deutschen", die zugleich auch anerkannte Sozialdemokraten waren und die nun als weckende und erziehende Kräfte die Seele dieser aufwachsenden Bewegung bildeten, kamen in aller Mund. Diese Führer durchzogen als Sendboten das ganze Land, und die Bevölkerung schlug sich auch bei uns ganz offen auf die Seite der Streikenden. Und was man früher nicht für möglich gehalten, ein Wirt gab seinen Saal zu einer Versammlung her, in der die Ausführungen der verschrieenen Roten einen tiefen Eindruck hinterließen. Wir brachten sogleich eine ansehnliche Filiale des freien Verbandes zustande. Diese Bewegung aber ergriff eine Gemeinde nach der anderen. überall wühlte sie Volksschichten auf, die bisher so gänzlich teilnahmslos Zentrum wählten und sich um Streik und Politik nicht kümmerten. Jetzt brannte es an allen Ecken und Enden.
Das Erwachen einer Bevölkerung, die bis dahin so angenehm gleichgültig war, suchte die Geistlichkeit nun überall durch die Gründung eines „christlichen" Gegenverbandes aufzuhalten. Sie warb für ihn offen und versteckt, schüchterte überall die Wirte ein, daß sie uns kein Lokal mehr öffneten. Die Presse stand ihr dabei fast im ganzen Bereich hilfreich zur Seite. Bald stand in jeder Fabrik eine Partei der Arbeiter gegen die andere. Ich und auch mein Vater, wir schlossen uns gleich dem freien Verbande an, und ich wurde bald in den Vorstand gewählt. Unsere großen Fabriken spielten fürs Gewerkschaftsleben eine Rolle, und wir waren von nun an regelmäßig in unserm Gewerkschafts- und Parteiblatt in Artikeln zu finden, die fast alle meiner Feder entstammten. Jemals aber in einer Versammlung das Wort zu ergreifen, daran hinderte mich starkes Lampenfieber. Wie man mir auch zuredete, und wie ich es auch selber zu überwinden suchte: es blieb dabei - bis zu einem gewissen Tage, wo ich meine erste „Rede" schwingen mußte. Es war ein Stück eines Konferenzberichts, der in unserer Mitgliederversammlung zu erstatten war, aber o je, wie mir das ein Angang war! Mein alter Freund, der mich in die Schule genommen, ließ mir aber keinen Ausweg mehr offen. Er selber erstattete als erster Redner einen Teil des Berichts, für den zweiten Teil war ich an der Reihe. Als ich nun das Wort ergriff, schlug mir das Herz bis in den Hals hinein, meine Kehle war bald so trocken, daß ich glaubte, gleich würde ich kein Wort mehr hervorbringen können, mit einemmal fühlte ich auch, daß in den Faden der nächsten Partie schon verloren hatte, die Versammlung begann mir wie in einem Nebel zu schwimmen, da, als ich schon den Boden unter mir treiben fühlte, blickte mich aus der Flut wieder das errettende Stichwort an. So bin ich doch hindurchgekommen. Das zweite Mal ist es schon etwas besser gegangen. Es war auch keine Kleinigkeit, eine ganze Rede „hoch" zu sprechen. Man muß bedenken, daß die Sprache, in der wir dachten und lebten, in der wir reden konnten, wie das Herz es uns eingab, das Plattdeutsche war. Im Hochdeutschen waren wir so unbeholfen, wie wenn wir uns in einer fremden Sprache bewegten. Heute ist es lieb und traut, wenn ich in die Heimat komme oder in der Ferne einen treffe und von ihm das kernige und anheimelnde Plattdeutsch höre; aber für den, der es nur allein beherrscht, ist es doch ein wahrer Hemmschuh, um in der Versammlung oder vor den Behörden seine Sache zu vertreten. So manch einer, der sonst sein Wort zu machen wußte, hat aus diesem argen Mißverhältnis in der Versammlung sich nicht herausgewagt.
Dann kam die Zeit, wo man mich als Delegierten zur Generalversammlung unseres Verbandes entsandte [erstmals Kassel 1902]. Ich habe nie ein größeres Gefühl gehabt, als wie ich zum erstenmal in eine so weite lockende Feme fuhr. Noch wochenlang nachher, als ich wieder an meinem Webstuhl stand - wenn dann die Sonne durch die schrägen Fenster des Fabrikdaches fiel und in schillernden Lichtern durch die Tausende glitzernder Fäden sprang, vergaß ich die Arbeit und schaute in blaue Täler und Höhen hinein. Auf der Generalversammlung lernte ich unsern Redakteur kennen. Der sagte zu mir: „Ach, das ist ja unser Kollege .. „ einer meiner besten Mitarbeiter!" Dies war die höchste Anerkennung, die ich in meinem Leben bekommen hatte. Aber auch die Reise - weit fort aus unserm engen Kreise - und das Erlebnis der Generalversammlung selbst galten mir als eine reiche Belohnung für mein Arbeiten.
Unser Versammlungsleben zu Hause blieb immer davon abhängig, ob wir unter der Gunst gewisser Umstände ein Lokal erwischten. Wir tagten oft in entlegenen Wirtshäusern in fremden Dörfern. Aber meistens war das in jedem Fall nur von kurzer Dauer. Die Wirte, die es sich getrauten, waren gewöhnlich Leute, die nur noch auf dem letzten Loche pfiffen und auf uns verfielen, wenn es schon zu spät für sie war. Wir konnten ihnen dann für eine Zeitlang noch eine Einnahme verschaffen, konnten einen solchen Mann aber gewöhnlich doch nicht mehr lange halten. Ich erinnere mich einer Versammlung in einem Lokal, worin es fast gänzlich an Sitzgelegenheit fehlte. Molkenbuhr sollte referieren. Da trat der Bürgermeister herein, und hinter ihm schritten seine beiden Polizisten. Der Bürgermeister ging an den Vorstandstisch und sagte: „Ich verlange für mich und meine beiden Beamten die besten Plätze." Er und „seine beiden Beamten", das war einer zu viel, aber wir besorgten Sitze, um eine sofortige Auflösung zu vermeiden. Eine Genossin stand auf und überließ dem Gestrengen ihren Stuhl. Der Mann nahm den Stuhl ohne Dank und klopfte ihn dann umständlich von allen Seiten mit dem Taschentuch ab. Wir warteten nur darauf, daß Molkenbuhr ihm heimleuchten würde. Das tat er dann auch so, daß unser Bürgermeister es für geraten hielt, einen „seiner beiden Beamten" wieder hinauszuschicken. Wir juhlten vor Lust. Doch nach einiger Zeit war das Lokal uns wieder abgetrieben. Wir haben den Mann in seiner Gemeinde jedoch noch öfter beehrt.
Im übrigen aber streuten wir auch ohne Versammlungen Korn um Korn, und manches fiel auf guten Boden. Unsere Filiale war längst auf über 200 Mitglieder angeschwollen und kein Teufel wußte sie wieder aus dem Ort zu bringen. Eines Tages, als wir wieder lange obdachlos gewesen waren, sagte ich unserem Vorsitzenden - es war ein schöner, freier Mensch, der uns leider verließ und nach Amerika ging -, daß ich auch wohl eine passende Agitationsbroschüre fertig brächte. Er schlug gleich vor, sie dann auf Kosten der Filiale drucken zu lassen und gratis in der ganzen Gegend zur Verbreitung zu bringen. Wir hatten bei unsern wenigen Ausgaben Geld immer genug in der Kasse. Da trug ich mich nun eine Zeitlang, wo ich ging und stand, mit der Broschüre herum. Am Webstuhl oder sonst, wenn mir die richtige Form für einen Gedanken kam, wurde er zu Papier gebracht, und abends zu Hause kramte ich diese Zettel aus; dann wurde ausgearbeitet. Nach einiger Zeit war das Schriftchen für gut befunden und abgesandt. Und wieder nach einiger Zeit fragte der Verlag bei mir an, für welchen Preis ich ihm die Broschüre überlassen wolle; er möchte sie im ganzen Verband billig zur Massenverbreitung bringen. Ich schrieb schleunigst zurück, daß ich gar nichts haben wolle und er sie nur unverzüglich für diesen Zweck verwenden solle, wenn sie ihm dessen wert erscheine. Das geschah denn auch, und der Erfolg war mir ein Lohn, wie ich ihn nie erwartet hatte. Ein Jahr darauf schrieb ich noch eine Broschüre. Als dann für sie und ein paar Artikel unverhofft ein Honorar ankam, hellte es daheim freudig die Gesichter auf, denn da saß ich ohne Arbeit da.
Quelle des ursprünglichen Artikels: Heimatbuch des Kreises Viersen 1979, Viersen 1976, S.209-221
Die Veröffentlichung an dieser Stelle geschieht mit freundlicher Genehmigung des
Kreises Viersen vom 16. September 1999
(Aktenzeichen 41/E
1-47 12 43)
Der Artikel wurde in alter Rechtschreibung belassen
Die Wilhelm-Reimes-Straße in Lobberich
Heimatbuchartikel über Lobberich
weitere Literatur über Lobberich
Geschichte(n) - auch aus anderen Quellen.