Der Nordkanal

Projekte, den Kanalbau wieder aufzunehmen

aus: "Tamm, Horst (Hrsg): Das Kanalhaus. Der Nordkanal im Raume Viersens und das Viersener Kanalhaus, Viersen (Eigenverlag), 2000."

Mit freundlicher Genehmigung des Verfassers vom 12. Juli 2022

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Nach dem entscheidenden Sieg der Verbündeten über Na­ poleon bei Leipzig (16. - 19. 10. 1813) zogen sich die Franzo­ sen auf das linksrheinische Gebiet zurück ; bald folgten ihnen die Verbündeten auch hier . Durch Viersen zogen die ersten Kosakeneinheiten am 18. und 19. Januar 1814. Die von den Franzosen befreiten deutschen Gebiete wurden vorübergehend einer Zentralverwaltung unterstellt. Dieses „ Generalgouverne­ ment" behielt sowohl die Verwaltungsstruktur (z. B. das „ Roer­ Departement") wie die Währung (Franc) bei. Die Gouverne­ mentsverwaltung versuchte die Situation für alle Optionen offen zu halten. So versuchte man der Zerstörung der Kanalanlagen Einhalt zu gebieten, die Entwendung von Baumaterialien zu

stoppen und behielt vorläufig zwei der vier verbliebenen Brü­ ckenwärter bei49). Auf dem die Kriege beendenden Wiener Kongreß (Schluss­ akte vom 9. 6. 1815) wurde die auch heute noch geltende Grenze zwischen dem den Niederlanden zugeschlagenen Maas­ land und dem Preußen zugeschlagenen Rheinland gezogen. So wurde die 53,1 km lange Trasse des Rhein-Maas-Kanals in ei­ nen preußischen Anteil von 48 km und einen kleinen niederländi­ schen Anteil von 5,3 km zerlegt. Die durch den Kanal zu errei­ chenden Häfen (insbesondere Antwerpen) lagen ebenso in den Niederlanden wie die über den Rhein zu erreichenden (z. B. Rot­ terdam). Nach der Teilung der Niederlande 1830 und in den nachfolgenden Jahren wurde die Situation nicht einfacher . Ant­ werpen gehörte fortan zu Belgien und ein Rhein-Maas-Schei­ de-Kanal wäre eine Dreiländerangelegenheit geworden . Auf je­ den Fall erreichte Preußen weder über den Rhein noch über den noch auszubauenden Kanal eigene Häfen. Damit entfiel ein ganz entscheidender Anreiz, das Projekt von Staats wegen zu för­ dern. Dennoch gab es beachtliche Aktivitäten, getragen beson­ ders von der lokalen Wirtschaft, den Kanalbau wieder aufzuneh­ men. Wir können diese grundsätzlich in zwei Gruppen zusam­ men fassen: a) Wiederaufnahme des gesamten Kanalprojektes b) Schiffbarmachung von Teilen des Kanals. Für Viersen mögen jene Pläne besonders interessant er­ scheinen, an denen sich Viersener Bürger und Unternehmer be­ teiligten . Diese gehören in die Gruppe a). Zur Gruppe b) gehört die Schiffbarmachung des südlichen Teils des Nordkanals. Auch diese beeinflußt die Geschichte Viersens und des umliegenden Gebietes nachhaltig. Bei der Darstellung der Schiffbarmachung von Kanalteilen halte ich mich weitgehend an das von Scheller vorgelegte Material. Zu a) hat W. Tillmann neue Dokumente zu­ gänglich gemacht, die hier zum ersten Mal in dieser Verbindung benutzt werden . Daß die Einstellung des Kanalbaus als vorläufig angesehen wurde , geht u. a. aus einem Brief von Oberbaudirektor Schauss an Generalgouvernements Commissaire des Roer-Departe­ ments, Boelling, vom 15. 9. 181450) hervor. - Der uns noch später begegnende Johann Wilhelm Thomas legt bereits 1816 32

Abb . 21: Verzeichnis der von der französischen Regierung zur Bewachung des Nord-Canals angestellten Garden (Wachen). HStA D, Bauinspektion Köln, M32.

der preußischen Regierung einen Weiterbauplan vor. In diesem Plan wird vorgesehen, dass die Brücken in Süchteln und Viersen fest sind. Ein Plan des Viersener Bürgermeisters Dietrich Preyer und des Viersener Kaufmanns J. Metzges vom 5. 2. 1818 sah den Anschluß des Süchtelner Hafens an Neuss vor . Allerdings scheint man schon das Problem der Scheitelhaltung, das bei dem realisierten Thomas-Plan von 1820 eine bedeutende Rolle spielen sollte, bedacht zu haben. Man schlägt in dem Prey­ er/Metzges-Plan ein Niveau von 35 m über NN für die Strecke von Neuss bis zur Niers und von 34,22 m über NN für die Stre­ cke bis Süchteln vor. Hageaus durch Scheller erschlossenes Scheitelmaß war 37,1 m über NN. - In dem genannten Plan wurde ein Wassersprung von 78 cm in Kauf genommen, der

durch ein Querdamm erzielt worden wäre; an diesem Quer­ damm hätte man die Schiffe umladen müssen. Der bekannte Viersener Unternehmer Friedrich Diergardt en­ gagierte sich ebenfalls für Kanalbauprojekte. Von Herrn Walter Tillmann wurden bei seinen Arbeiten über diesen Unternehmer im Stadtarchiv Leverkusen diesbezügliche Vorschläge aufgefun­ den. Der Kanal sollte 36 Fuß (= 11,3 m) breit sein und einen Wasserstand von 4 Fuß (= 1,25 m) haben, „ damit im Sommer in großer Hitze die notwendige Wasserhöhe eingehalten" wer­ den kann51). - Um die gleiche Zeit gibt es Kostenabschätzun­ gen von seiten des Landratsamtes in (Mönchen-) Gladbach und der Königlichen Regierung in Düsseldorf, dass die Vollendung des Nordkanals für den preußischen Teil „ nicht unter 1 Million Thaler zu erreichen sein würde . . . während auf das könig­ lich-niederländische Territorium auch mehr als 300.000 Thaler . . . erforderlich wären". 52) Wie sehr sich um diese Zeit die Gemüter dem Nordkanal wieder zuwandten, geht aus W. Tillmanns Beitrag zu Handel, Gewerbe und Landwirtschaft in Hinsbeck hervor. Nach der Mit­ teilung der Königlichen Regierung in Düsseldorf an den Kempe­ ner Landrat Foerster vom 17. 4. 1844 hatten sich die Nieder­ lande dahin gehend geäußert, dass sie ihren Kanalteil fertig stellen wollten , wenn Preußen die Wiederherstellung seines Ka­ nalteils betreibt. Eine gemeinsame Antwort der beiden Landräte von (Mönchen-)Gladbach und Kempen vom 8. 7. 1844 und eine Stellungnahme der Handelskammer führte alle entsprechenden Argumente auf. Aufgelistet werden auch die zu jener Zeit auf dem inzwischen schiffbar gemachten Teil des Nordkanals tat­ sächlich transportierten Güter; die Reihenfolge steht für die Wichtigkeit: Steinkohlen, Kalk, Mergel, Bauholz, Steine, Brannt­ wein, Kolonialwaren, Baumwolle, Twist, Eisen usw.53 54). Man versprach sich großen Nutzen nicht nur für Hinsbeck, sondern für den gesamten Kammerbereich. Auch das gräfliche Haus Schaesberg vom Schloß Krickenbeck war dem Projekt zu­ getan. Es war aber bereits die Zeit, in der der Eisenbahnbau be­ gann und man plädierte für Eisenbahnen statt Neuausbau des Kanals55). Trotzdem kam man immer wieder auf entsprechende Pläne zurück . Eine umfangreiche Stellungnahme zum Kanalbau liegt uns anlässlich eines Antrags der Handelskammer Gladbach zum vorgesehenen Verkauf des Kanalterrains von seiten des Düssel­ dorfer Regierungspräsidiums an das Oberpräsidium in Coblenz vom 4. 11. 1871 vor. Man gibt vor Wiederaufnahme der Pläne folgendes zu bedenken: 1) Das ursprüngliche Kanalbauprojekt zielte auf die Umgehung und Schädigung Hollands. Mit der holländischen Zustim­ mung kann deshalb kaum gerechnet werden. 2) Die alte Route folgte u. a. militärischen Bedürfnissen: so stromaufwärts wie möglich. Heutige (heute = 1871) wirt­ schaftliche Bedürfnisse trägt eine Route, die dem neuen Schwerpunkt, dem Ruhrgebiet, direkt gegenüber beginnt und an Krefeld vorbei geleitet wird (Stichkanal nach Viersen und (Mönchen-)Gladbach) besser Rechnung. 3) Die Anlagen sind weitgehend zerstört. 4) Bei der Verfolgung der alten Kanalpläne empfindliche Schä­ digung der Meliorationsaufwendungen und Störung der „ ge­ werblichen Etablissements" von Neuss mit ihrem hohen Wasserbedarf 56). Einen Bauplan legte der Kreisbaumeister Lange vor, der uns später auf der Seite 47 noch begegnen wird 58) . Lange, später Geheimer Oberregierungsrat in Berlin, versuchte Kanalbaupläne nach Kräften zu fördern59). 1877 wurde das Kanalprojekt erneut diskutiert oder war das Projekt „ Crefelder-Canal-Verein" unter den obwaltenden Um­ ständen schon den neuen Forderungen angepasst? - Der Hins­ becker Bürgermeister Färvers lehnte die vom Krefelder Ober­ bürgermeister angetragene Mitgliedschaft ab, da die Verhältnis­ se ihm nicht gestatten, ein Mandat zu übernehmen. Bei der Kos­ tenermittlung wollte kein Hinsbecker Grundstücksbesitzer für den Kanal benötigte Parzellen unentgeltlich oder gegen eine er­ mäßigte Entschädigung hergeben60 ). Eine umfassende Übersicht über die zahlreichen Kanalbau­ projekte erhält man bei Walter Föhl61). - Noch in diesen Tagen berichtete das Fernsehen über ein Kanalbauprojekt des Esse­ ners Chr. Gerstenhauer 62). So starb das Kanalprojekt mehrere Tode, durch Napoleon, durch die Politik, durch die Eisenbahn, wegen mangelnder Wirt­ schaftlichkeit. Gewissermaßen darf man jedoch die nord- und ostwärts gerichteten Kanalverbindungen von Rhein und Ruhr als

zeitgenössischen Ersatz ansehen: immer ging es darum , eine im eigenen Staats-, Zoll- und Wirtschaftsbereich gelegene Ha­ fenverbindung für den Rhein zu erhalten. Für die Spanier und für die Franzosen bot sie Antwerpen, für Preußen und das Deut­ sche Reich boten sie Emden, Bremen und Hamburg. Also wur­ den die Kanäle dahin gebaut. - Erst die jetzige wirtschaftliche, zollmäßige und politische Gemeinsamkeit mit den Niederlanden könnte - wieder einmal - eine Wende in dieser Frage bewirken. Aber nach der Diskussion des Rhein-Maas-Kanals nach Na­ poleon wollen wir uns, wie oben bereits erwähnt (Punkt b)), der Teilaktivierung der Strecke Neuss-Neersen zuwenden . Auf Ba­ sis der eingereichten Pläne des bereits genannten Johann Wil­ helm Thomas 63) schloß der preußische Staat mit Thomas am 30. 12. 1822 einen Vertrag 63 . Statt wie bei Hageau 200 to-Schiffe sollten nur 15 to-Schiffe eingesetzt werden, der Kanal sollte nur 94 cm tief (statt 2,60 m), an der Sohle nur 3,77 m breit (statt 13 m} sein und das Niveau sollte bei 35,03 (statt 37,1 m} liegen. Das Wesentliche war jedoch, dass es ein Kanal ohne Rheinanschluß war. Dennoch hat er - vor allem von 1829 ab, nachdem Stinnes die Pacht übernahm - für etwa 20 Jahre seine Funktion als wirtschaftlicher Kohletransportweg für die sich um Mönchengladbach und Viersen entwickelnde Indu­ strie erfüllt. Der Nordkanal, selbst in dieser bescheidenen Form, war eine der infrastrukturellen Voraussetzungen der frü­ hen Industrialisierung des inneren Niederrheingebietes . Als Geldgeber fungierten die Elberfelder Bankiers Gebrüder Blank, die ab 1824 anstelle von Thomas Vertragspartner wur­ den. Die Probleme der Wassertiefe, der Kanalspiegelhöhe, der Sohlenabsenkung (mithin der Kanalvertiefung) werden bei Schel­ ler ausführlich dargestellt. Selbst Wasserbauer , muß er sich weitgehend auf Vorgängerberichte (z. B. die des Wasserbauin­ spektors Fischer} stützen, da die Akten teilweise verloren gin­ gen. - Wegen der vielfältigen Probleme steckte das Bankhaus Blank mehr Geld in das Unternehmen, als es herausholen konn­ te und fallierte. Am 3. 12. 1839 meldete das Bankhaus Gebrü­ der Blank Konkurs an. Transportiert wurden auf Schiffen, die bis zu 25 to Ladung aufnehmen konnten, die oben erwähnten Güter. Zusätzlich wer­ den noch Bretter, Steinplatten, Dachschiefer und Kies genannt; es sind also überwiegend sogenannte Massengüter. Das Schiff 34 wurde vom Ufer aus getreidelt. Der „ Kapitän" begleitete sein Schiff, das Pferd führend, auf dem Kanaldamm. Mindestens vier Brücken, davon eine Fußgängerbrücke, mussten passiert wer­ den. Alle Brücken waren fest, wurden also nicht aufgezogen. Vor der Brücke löste der Treidler das Zugtau und befestigte es wieder nach der Brückenpassage am Bug des Schiffes 64}. Von Neersen aus erfolgte die Verteilung der Güter an die verschie­ denen Verbraucher . Sogar ein Personentransport wurde einge­ richtet („ Eil-Yacht"}. - Aber nachdem die Eisenbahn von Ruhrort direkt nach Viersen (1847/49) und Mönchengladbach (1851) verkehrte, war der Wasserweg mit zweimaligem Umladen nicht mehr konkurrenzfähig. Die offiziell letzte Fahrt mit „ Kapitän" Roß (dem Treidler mit dem Spitznamen Rosse-Hübbelsche aus Neuss} 1847 schildert das Heimatbuch 195165 . Den Reden der Honoratioren anläss­ lich dieser letzten Fahrt konnte Roß keine eigene hinzufügen, aber dafür turnte er der versammelten Menge etwas vor . Nordkanal und Eisenbahnbau Die Eisenbahn trug mit dazu bei, dass Projekte, den Nord­ kanalbau wieder zu beleben, nicht zum Zuge kamen. Einesteils, weil sie Güter schneller und direkter in die Nähe des Verbrau­ chers brachte und andernteils, weil sie Anlagen des Kanals in Anspruch nahm. Neben den Akten des Staatsarchives in Düsseldorf 66} wur­ den vor allem die in den Heimatbüchern gebotenen Zusammen­ fassungen von Hans Buckenhüskes, Alfons Brei! und Hans Joa­ chim Stockschläger benutzt. Weiter wurden die Rheinischen Städteatlanten von Neersen und Mönchengladbach und der At­ las von 1. Hantsche zu Rate gezogen67}. Die erste Bahnstrecke, die der Ruhrort-Crefeld-Kreis Gladba­ cher Eisenbahn, die von 1847 an gebaut wurde , kreuzte nur den Kanal und nahm darüber hinaus kein Terraingrundstück in Anspruch . - Siehe hierzu Farbtafeln III und IV. - Anders bei der Crefeld-Kreis Kempener Industriebahn, dem „ Schluff", der über eine Strecke von ca. 10 km einen der Kanaldämme benutzte. Später kam noch die Rheinische Bahngesellschaft hinzu, die mit der Strecke Neuss-Kaarst-Viersen fast gänzlich auf Kanalgelän­ de lief . Diese Strecke wurde 1968 aufgegeben . Ein kleines Re-

likt dieser Strecke ist der Bahndamm zwischen den Rollenben­ den „ Wilddiebwäldchen", nordwestlich vom Schanzweg) und der Brücke über die Eichenstraße . Es sei noch erwähnt, dass eine Wiederaufnahme der Kaarst-Viersener Strecke als Privat­ bahn zur Zeit erwogen wird. Von Neuss bis zum Kaarster See wird sie bereits - und zwar wieder auf dem ehemaligen Kanal­ damm - betrieben. Die ursprünglichen privaten Bahngesellschaften, die umfir­ mierten oder die Besitzer wechselten, bieten Außenstehenden ein wirres Bild. Eine tabellarische Übersicht möge die Entwick­ lung etwas klarer darstellen . Ergänzt sei noch, dass außer Bahnen auch Chausseen auf den Kanaltrassen angelegt wurden. Die Bezirksstraße von Süch­ teln über Grefrath nach Paas, wie die heutige L 39 damals be­ zeichnet wurde, nutzte einen der Nordkanaldämme . Heute noch zeigt das gerade Stück der L 39 bei Hagenbroich nördlich von Süchteln-Vorst die ehemalige Kanaltrasse an. Der Bau der Stra­ ße von Süchteln über Grefrath nach Straelen wurde in den Jah­ ren 1843 bis 1845 geplant; der Bau erfolgte 184569). Das eben beschriebene Kanal- bzw. Landstraßenstück bot nach Erbauung des „ Schluffs" (1870) das seltene Beispiel der Doppelnutzung: der östliche Kanaldamm wurde von der Straße, der westliche von der Bahn genutzt. Straße und Bahn mussten deshalb zweimal einander kreuzen. Die Bahn erhielt von Staats wegen Auflagen beim Bahnbau, damit die schon vorhandene Chaussee nicht beeinträchtigt werde. Eine weitere Straße, die auf einem Kanaldamm angelegt wurde, war „ die Heerdt-Abtshofer Staatsstraße von Fürth nach Schiefbahn", die heutige L 390 68). Auch hier lagen die Dämme nutzenden Verkehrswege Schiene und Straße nebeneinander: zwischen (Neuss-)Furth und der Schiefbahner Kanalbrücke nutz­ te die Straße den nördlichen, die Bahn den südlichen Kanal­ damm.


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