Der Polfaden

Schwierigkeiten der Inflationsjahre

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Über 30 Jahre liegt diese schwere Zeit heute zurück, doch wird es für die heutige Generation von Interesse sein, darüber etwas zu hören.

Die der Geldentwertung folgenden, fast von Woche zu Woche wechselnden und sprunghaft sich steigernden Lohntarife stellten das Lohnbüro vor schwere Aufgaben. Schwierig war auch die Geldbeschaffung. Der Geldtransport war in der unruhigen Zeit oft gefährdet. Um dem hohen Bedarf an Zahlungsmitteln begegnen zu können, wurde von Städten und Gemeinden, aber auch von den größeren Betrieben, sogenanntes Notgeld ausgegeben, etwa ab Juli 1923.

Unsere beiden Firmen Niedieck und de Ball löhnten August-November fast nur noch mit Schecks, die auf ein Guthaben bei einer Bank lauteten und von der Bevölkerung und der Geschäftswelt wie Noten der Reichsbank angesehen wurden.

Als Ende November 1923 durch die Stabilisierung der Mark die Inflation beendet war, wurde das Notgeld zum Umtausch aufgerufen. Eine Billion Inflationsgeld zählte noch eine Rentenmark, oder 10 Milliarden Papiergeld waren gleich 1 Pfennig; so toll war es gewesen.

Die Geldentwertung war zuletzt mit einem derartigen Tempo vorangeschritten, daß in Auftrag gegebene Geldscheine bei der Ablieferung aus der Druckerei nur noch Papierwert hatten.

So waren bei Link Niedieck & Co. noch lange Zeit nach der Inflation Notizblocks in Gebrauch, die aus nicht zur Ausgabe gelangten Schecks angefertigt waren. Damit wurde wenigstens das weiße Papier der Rückseite verwertet. Zum Akkord- oder Stundenlohn wurde, als Ausgleich für den abgleitenden Kaufwert des Geldes, ein Zuschlag pro geleistete Arbeitsstunde gezahlt, der bald den Namen „Anwesenheitsgeld" erhielt. Er war ziemlich hoch bemessen. Mußte ein Weber auf Material warten, oder stand der Stuhl wegen Reparatur oder aus einem andern Grunde, so wurde er für diese Zeit auf irgendeine Weise beschäftigt und erhielt dann den Weberstundenlohn plus Anwesenheitsgeld; vielleicht waren es 1.700.000 Mark Stundenlohn + 600.000 Mark Zulage. Manchem wurde es schwindelig vor Zahlen. Er steckte sich am Lohntage seine Milliarden in die Tasche; wenn er oder seine Frau klug waren, gaben sie die ganze Löhnung möglichst am gleichen Tage aus, weil sie schon am anderen Tage weniger dafür kaufen konnten. Und nun ein „Stücksken" aus dieser Zeit, als die Löhne sich in Millionen und Milliarden bewegten.

Also da war der Gruteser Mattes aus Leuth, ein Weber vom guten alten Schlag. Er war beim Andrehen und trug das 13 Leimstückchen, an dem er Daumen und Zeigefinger der linken Hand zum „Friemeln" klebrig machte, an einer Kordel um den Hals. Schon lange sieht man diese Leimstückchen nicht mehr; man macht sich heute vor dem Andrehen einen Kitt zurecht, der in einem Blechschälchen handgerecht neben dem Andreher steht. Gruteser war mit dem Andrehen der Kette bald fertig, hatte aber auf der Wiegekammer gehört, daß sein Pol anschließend nicht fertig geschärt wäre. Nachmittags kam er zum Meister und sagte ganz treuherzig: „Ich mot e paar Dag op minne Poal waute, ävel ich well mar dän Tiet te Hehm blieve. Te Hehm hat man doch emmer allerhands te knöngele, on de Heäre Sailen ooch wähl bold kenen Autenuht mier wiete van all et Betahle." Er wollte also gewissermaßen die Fabrikherren ein wenig entlasten, indem er auf die ihm zustehende Beschäftigung und Entlohnung verzichtete.

Aus: Der Polfaden - Mitarbeiterzeitung der Fa. Niedieck und de Ball
2. Jahrgang, Heft 4 - April 1955 - zum 100-jährigen der Fa. Niedieck

Der Bericht wurde in alter Rechtschreibung belassen