1000 Jahre Lobberich

Geschichte und ihre Geschichten -
ein Leseheft für Schulen und Familien


Brauchtum und seine Grenzen - ein Beispiel aus dem Jahr 1714

Töchter des Jelis to Broeck im Sassenfeld hatten geheiratet, aber zuvor versäumt, den jungen Knechten in Lobberich ein sogenanntes Hebegeld oder als Ersatz Bier zu geben. Das führte zu großem Ärger, der wiederum zu einer Klage der Jungvermählten vor dem Lobbericher Gericht führte: „Wenn die Jungverheirateten das Hebegeld nicht zahlen, dann wird als erste Anmahnung nachts oder bei Unzeit ein Kohl vor die Tür gehängt. Die Tür oder die Pforte wird ausgeworfen und danach weggetragen, die Gärten werden verdorben und die Pflüge aus dem Feld geholt. Erfolgt auf diese Anmah nung keine Zahlung, dann werden die jungen Bäume geschält oder abgeschnitten, die Brunnen mit Asche gefüllt oder mit Teer beschmiert, die Dächer von den Gebäuden gebrochen, ja selbst die Früchte auf dem Feld zerstört. Die Leute müssen dann durch all diese Quälereien gedrängt und geknebelt, an die Junggesellen herantreten und sie fragen, was ihr Begehren ist (worin die nächste Folterei steckt). Spricht keiner von allen, dann müssen die Geknebelten solange Geld anbieten oder geloben, bis ihnen gesagt wird, daß es genug sei. Auch müssen die gezwungenen Geber noch dabei sagen, daß sie das Geld gerne geben und daß man es auf ihre Gesundheit verzehren solle. Damit die Übeltäter nicht bekannt werden, geschehen auch wohl die Zahlungen an die dritte oder vierte Hand, ja an den Wirten (wo die Junggesellen ihr Gelage halten). Ehrsame Richter, überlegt einmal, ob das nicht Knebelei, Brandschatzung und dergleichen Schlechtigkeit ist und ob solche Stückchen nicht ärger sind als selbst Teufeleien.

Es war nun unlängst, daß zwei Töchter von Jelis to Broeck wenige Zeit hintereinander geheiratet und kein Hebegeld gegeben haben. Einige junge Knechte, ohne Zweifel jene, die zum Gelag von Jan Bongaerts und Heinrich Beumen gehören, sind gekommen und haben bei Nacht und Unzeit verschiedene Ungehörigkeiten im Garten und auf dem Hof, im Baumgarten und auf dem Feld auf allerhand Art getrieben. Als das nicht helfen wollte, haben sie viele junge Eichenbäume geschält und abgeschnitten. Darauf haben sie ein Rad aus der Karre weggetragen, das vor wenigen Tagen wiedergefunden wurde. Was eine Leibesstrafe mehr als alle anderen Strafe verdient, ist, sie haben einen Bienenkorb verdorben, den Honig herausgeschnitten, über den Weg gestreut, ja ihrem Spielmann, der in seinem Haus auf dem Bette lag, ein Stück Honig durchs Fenster zugeworfen. Sie sind, obwohl diese frechen Stückchen nicht einer Geldbuße, wohl einer harten Leibesstrafe unterworfen sind, in ihrem Mutwillen und ihren Ungehörigkeiter:i fortgefahren, um die Broeckerleute zum Zahlen des Hebegeldes zu zwingen, haben ein Stück jungen Klee nachts umgebaut und ganz und gar verdorben und, als der Flachs gereffelt und die Ballen die erste Nacht aufgestellt waren, die Gestelle umgeworfen, die Ballen untergegraben und eine große Menge Flachs verdorben. Wenn man auch eigentlich nicht weiß, welche Personen dabei handtätig gewesen sind, so haben die Klägerfrauen doch einige Anhalte dafür, daß Jan Verfers und einer seiner Kameraden in der bestimmten Nacht zwei Pflüge auf den Schultern hatten, um sie wegzutragen. Sie haben nimmer damit bauen wollen, da sie die Pferde nicht mitgebracht hatten, um die Pflüge ziehen zu lassen. Es war auch keine Zeit, die Pflüge zum Schmied oder Zimmermann zu tragen, denn es war dunkle Nacht. Man soll wohl sagen, daß die Pflüge durch die Sonnenhitze ausgetrocknet gewesen seien und daß man sie ins Wasser habe bringen wollen. Man trifft bestimmt die Wahrheit und die Absicht der Genannten, wenn man an­ nimmt, daß dasselbe Speelken wie die vorigen war und daß alle diese Stückchen von ein und derselben Violine oder Baßgeige ge­ spielt und von einem Meister waren, um den Broeckerleuten „het heffgelt ouyt (aus) dem Sack te speelen".

Als die Genannten gewahr wurden, daß sie gesehen und erkannt worden waren, haben sie die Pflüge niedergeworfen. Der Kamerad ist dann zu den Dörferjungen geflohen und hat ihnen gesagt: „Jungens, halt de muyl" (Maul). Ehrsame Richter, wollen sie doch erst einmal das Weglaufen der Genannten und Niederwerfen der Pflüge und das Flüchtigbleiben überdenken. Es ist unwidersprechlich, daß einer, der gute Werke tut, nicht flüchtig wird wegen seiner guten, unschuldigen und un­ strafbaren Taten. Warum mögen es die Genannten für nötig gehalten haben, diejenigen, welche sie gestellt hatten, zu bitten, daß sie nicht klappen sollten? So immer das Wegtragen der Pflüge gut oder doch wenigstens unstrafbar war, hatten die Genannten nicht nötig, Schweigen zu erbitten. Nach einer Reihe weiterer Gedanken bitten die Klägerinnen, die Beschuldigten nicht allein nach den eingangs erwähnten Verordnungen in eine Strafe zu 10 Gulden zu nehmen, sondern darüber hinaus nach Gutdünken gehörig zu bestrafen, anderen zum abschreckenden Beispiel. Erläuterung: Die Sprache verrät den geübten Rechtsanwalt.

Es gab ein Gesetz von 1689, erneuert 1711, wonach verboten war, Hebegeld zu erpressen. Es scheint, daß nach dem Dreißigjährigen Krieg so mancher Brauch bis an die Grenze des Möglichen ausgedehnt wurde . Wir können das leicht aus einigen landesherrlichen Anordnungen entnehmen: So wurde 1711 festgelegt, daß Hochzeiten nicht länger als 2 Tage stattfinden und höchstens 40 Personen daran teilnehmen dürften. Bei der Einladung der Gäste und am Hochzeitstag selbst sei das Böllerschießen verboten. 1747 wurde das Setzen von Maien zum 1. Mai untersagt. Im Juli 1766 wurde, wohl mit Blick auf die Feste im Sommer, bestimmt, „das ungedroude vroupersonen sich niet laten vinden sollen bei der Versammlung van de Jongmanns:" Aber auch den Junggesellen wurden Grenzen gezeigt: Es wird ihnen verboten, an Kirmestagen wegen Streitigkeiten mit den Musikanten von einer Herberge zur anderen zu ziehen. Auf der anderen Seite haben die Musikanten die Verpflichtung, vor dem Spielen nicht nur den Wirten, sondern auch den Junggesellen ihr Spielpatent vorzuzeigen. Einern allgemeinen Verbot unterlag das „troppenweise versam­ meln op Sondagen binnen der hoogmees" (14) und das „Rufen, Tumultieren und Singen auf den Straßen während der Nachtzeit." Eine Unsitte hatte um die Mitte des 18. Jahrhunderts, wie es scheint, ihre Anhänger: zu 1754 wird nämlich beim Einfahren der Ernte „das gefährliche Tabakrauchen" verboten.

Eremitage
Eremitage, 1747, Fußfall

In diesem „ordnungsfreudig en" Jahrhundert durften auch Anordnungen zum Bauwesen nicht fehlen: um die Jahrhundertmitte wurde untersagt, neue Strohdächer zu decken und außerdem vorgeschrieben, nur noch in Stein zu bauen (Brandgefahr). Daß lange nicht alle Menschen in Lobberich und Umgebung sich den vielen Geboten un terordneten, wissen wir nicht nur vom Mißbrauch bei der Erhebung des Hebegeldes, sondern auch durch das ärgerliche Mißgeschick, das dem Eremiten an der heutigen Düsseldorfer Straße neben dem Feuerwehrhaus widerfuhr: Der fromme Franziskanermönch, der dort um 1750 in einer Klause hinter der noch stehenden Kapelle zurückgezogen mit einem Gehilfen lebte, verdiente sein Brot mit Handel. Er unterrichtete aber auch Kinder in der Glaubenslehre und förderte eine Freitagsprozession, die in der Fastenzeit regelmäßig zu den 7 Fußfällen führte. (15) Wohl nicht zuletzt durch die in der Klause vermuteten Gelder aus Kollekten und mildtätigen Spenden angelockt, kreuzte eines Nachts der „Fetzer" mit seinen Komplizen auf . Unter den Augen des Mönchs und seines Helfers durchschnitten sie das Glockenseil und füllten gemächlich ihre Säcke. Und wie sie gekommen waren, so verschwanden die Räuber.

Hier einige Bemerkungen zum Wikilink „Fetzer": Er wurde 1778 bei Grefrath geboren und hieß Weber. Verwegenheit, Geistesgegenwart und Klugheit ließen ihn zum Anführer einer der am Ende des Jahrhunderts zahlreichen Banden aufsteigen. Als die Franzosen 1798 ihre Verwaltung auch am Niederrhein ausbauten, war die Zeit der Banden vorbei . Da half auch sein „Fetzen" = Dreinschlagen nichts mehr. Um den 20. Februar 1803 legte Fetzer seinen Kopf in Köln auf den Block. Er wurde guillotiniert, übrigens fast zur selben Zeit wie der Schinderhannes in Mainz. Der Räuber Fetzer hatte vorher folgende Verbrechen für die Zeit von 6 Jahren gestanden: 178 Einbrüche und Diebstähle und den Totschlag seiner Frau im Jähzorn. Die Richter stellten fest, daß aus ihm etwas Tüchtiges hätte werden können, wenn er nur unter besseren Verhältnissen aufgewachsen wäre.


14) ungedroude - unverheiratete; vroupersonen - Frauenspersonen, Frauen/ Mädchen; troppenweis - truppenweise, in Gruppen; hoogmees - Hochamt um 10 Uhr

15) Fußfälle sind Gebetsstätten auf den Ort verteilt. Im 18. Jahrhundert gab es nicht nur in Lobberich  Link 7 Fußfälle, zu denen man „hinpilgerte" wie in Rom zu den sogenannten Stationskirchen.
Josef Budde zählte auf : Kreuz in der Nähe der alten Gerichtsstätte am Heggespoel, Hagelkreuz am heutigen Wasserturm, Kreuz an der Gabel Bocholter Weg / Süchtelner Straße, Eremitage, Nikolauskapelle am Stern vor der Neuen Kirche, Krüßhütte am Eingang zum Sassenfeld und als letzte Station die Rochuskapelle


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Geschichte(n) - auch aus anderen Quellen.