Chronik der Elisabeth- und Friedrichstraße

Von Wilhelmine Steinberg (1990)

aus: Nettetaler Spätlese. Zeitung für ältere Menschen Nr. 10 - März 2003


Vielen alten Lobberichern wird der Hemelsplatz noch ein Begriff sein. Er erstreckte sich zwischen dem ersten Haus rechts auf der kleinen Elisabethstrasse und dem Hut-Mützen-und Schirm-Geschätshaus der Familie Hermann Terhaag auf der damaligen Bahn- der jetzigen Niedieckstraße. Heute steht dort das Privathaus des verstorbenen Rechtsanwalts Cornel Schmitz. Der freie Platz war früher der schönste Spiel- und Tummelplatz sämtlicher Kinder der umliegenden Häuser und Straßen.

Wenn sich dort ein kleiner Wanderzirkus niederließ, war das Interesse und die Freude groß. Gastierte er gar unter freiem Himmel, dann sah - wer konnte - vom Fenster aus zu. Das kostete nichts. Das Sägemehl für die Arena holten sich die Zirkusleute von der Schreinerei Hemels-Schoers. Das Wasser jedoch bekamen sie von Terhaag.

Nicht nur ab und zu ein Zirkus, sondern auch die fahrende Heimat - im Volksmund "Pullekes" genannt - ließen sich dort nieder, um mit ihren handgefertigten Korbwaren, Messer- und Scherenschleifen und sonstigem Kram die Lobbericher zu beglücken. Die Frauen führten meistens den Verkauf durch. Sie verstanden es meisterhaft, Mitleid zu erwecken, um dadurch den Verkauf anzuregen und ließen die Zahl ihrer armen hungernden Kinder in astronomische Höhen steigen.

Irmgard Terhaag, die spätere Frau Hangen, schleppte des öfteren mal ein hungriges Kind - genannt Marie - mit nach Hause, um es dort - mit Einverständnis der Mutter, satt zu füttern. Als Dank ließ das Pullekes-Kind Irmgard eine besonders gute Sorte Krabbeltierchen - genannt Läuse - auf dem Kopf zurück. Wie wurde mit Staub- und Nissenkämmen gearbeitet, bis die hartnäckige Brut endlich vernichtet war.

Das erste Haus rechts der kleinen Elisabethstrasse bewohnten mehrere Generationen der Familie Hemels. Der Vater stammte aus Holland und ließ sich als Schreinermeister dort nieder. Die letzte der Familie war mit mehreren Töchtern gesegnet. Luise, eine erstklassige Weißnäherin, besaß Courage und eröffnete mit ihrer Schwester Tine ein kleines, aber feines Geschäft. An Kundschaft mangelte es nicht, da sie nicht nur Wäsche und Herrenhemden nach Maß, sondern auch die wunderschönsten Kinderkleider nähte. Sie verehelichte sich mit Schreinermeister Schroers, der auf dem hinter dem Haus liegendem Grundstück der Schreinerei des Schwiegervaters (heute Schreinerei Jungbluth) als Spezialität ein Sarglager führte. Bei schlechtem Wetter und während seiner Abwesenheit spielten die Kinder dort und versteckten sich mit Vorliebe in den Särgen, wo man lange suchen mußte, bis man sie fand.

Durch die Freundschaft mit den vier Töchtern und der großartigen Näherei der Mutter Luise, waren viele Familien mit den Schroers eng verbunden.

Im Haus daneben wohnte Konrad Hendrix mit seiner Frau Franziska, geb. Nicus. Sie betrieben noch einen alten Handwebstuhl und arbeiteten für die Firma Niedieck. Damit sie ihr tägliches Pensum geschafft kriegten, wurden die kleinen Kinder mit Zuckerschnaps in Ruhe versetzt.

Oben wohnte die Familie Jakob Hendrix - ein Bruder des Webers. Er arbeitete als Drucker und Setzer bei der Heimatzeitung "Rhein und Maas" der Gebrüder Peters und soll namentlich zur Erhaltung und Verbesserung des Blattes beigetragen haben. Er wurde 92 Jahre alt, seine Frau sogar 93 Jahre. Von Dors-Bienemann in den anschließenden Häusern ist nichts besonderes zu berichten - umso mehr tat sich auf der gegenüberliegenden Seite‚ Versicherung Plönes' und Fräulein Simonett.

Eine der interessantesten Persönlichkeiten der Straße war Frau Laus - auch scherzhafterweise Frau Dr. Laus genannt. Sie kurierte nach alten geheimnisvollen Rezepten ihrer Vorfahren die Halsentzündungen ihrer Mitmenschen aus. Es gibt sicher kaum jemand in Lobberich und Umgebung, der nicht mal bei hartnäckigen Erkältungen ihre Hilfe in Anspruch genommen hat. Sie pinselte den Hals mit einer Hühnerfeder und ließ die Patienten mit einer undefinierbaren Flüssigkeit gurgeln. Danach trat fast immer Erleichterung, wenn nicht gar totale Besserung ein. Führwahr, ihr Tun war ein Segen für die Menschheit. Zu schade, daß sie keine Nachfolgerung hatte.

Im Haus oben wohnten Jakels - ebenso wie Laus mit vielen Kindern gesegnet. Insgesamt bevölkerten 15 Personen das nicht gerade große Haus und es benutzten alle nur ein Klo.

Das tat den freundlichen und gut nachbarlichen Beziehungen keinen Abbruch, zumal die Nachbarn Inderbiethen mit ihrem herrlichen Abendgesang nach einem oder mehreren weißen Körnchen das ganze Sträßchen unterhielt und erfreute.

Die Nachbarschaft hielt ganz besonders eng zusammen. Wurde ein Kind geboren, wurde die Wöchnerin bestens versorgt und mit ganz besonders leckeren Speisen erfreut.

So klein die Elisabethstrasse auch ist, allein vier Goldhochzeiten ereigneten sich zur damaligen Zeit kurz hintereinander. Da gab's immer was zu feiern. Ein Lokal in unmittelbarer Nähe bot sich bestens dafür an.

Wo in einer Rundung die Elisabethstrasse in die Friedrichstrasse übergeht, lag die Wirtschaft Pötter, später Herkenrath. Klein, aber sehr gemütlich wurde sie von vielen Stammkunden besucht. Wenn früher die Väter Durst auf Bier hatten, oder die Mutter Biersuppe kochen wollte, mussten die Kinder es per Krug holen. Der Weg von der Wirtschaft bis daheim wurde eifrig dazu benutzt, das Schümpken (Schäumchen) abzutrinken. Ob das wohl Folgen hatte? Da schweigt des Sängers Höflichkeit.

Zwischen der Wirtschaft Herkenrath-Pötter und dem ehemaligen v.d.Upwich Garten - jetzt Grundstück der Familie Selbach) - war gerade noch Platz, dass sich eine kleine Wiese ausbreiten konnte. Diese war der ideale Wäschebleichplatz für alle im Umfeld lebenden Familien, die keinen eigenen Rasen hatten. Auf Geheiß der Mütter marschierten die Kinder mit Gießkannen dorthin, um die Wäsche zu berieseln. Dass sich die Berieselung nicht nur auf die Wäsche bezog, war klar. Es wurde tüchtig Schabernack getrieben und sich gegenseitig nassgespritzt.

Zwischen der Wirtschaft Herkenrath und der früheren evangelischen Kirche wohnte die Familie der Futtermittelgroßhandlung Classen. Trotz der neuen Kirche, war die alte evangelische Kirche erhaltenswürdig und wurde Gottseidank nicht abgerissen.

Nur noch zwei Häuser stehen auf der besonders kleinen Friedrichstrasse. Zur damaligen Zeit wohnte links Paul Peters - Mitinhaber der "Rhein und Maas"-Zeitung, rechts wohnte Schneider Kronenbruck. Auf dem Eckgrundstück steht heute das Bürohaus der Anwaltspraxis Minten/Neef.

So klein und zusammengedrängt die Elisabeth- und Friedrichstrasse sich auch präsentieren - zur damaligen Zeit wohnten dort eine Menge bemerkenswerter Leute, deren Kinder und Kindeskinder tüchtige Leute geworden sind und die sich zu gern ihrer Vorfahren erinnern.


Nachtrag zur Elisabethstrasse

(Spätlese 12-2003)

Die Berichte über Straßen und Stadtteile von Nettetal, wie sie früher waren, kommen bei unseren Lesern sehr gut an. Ehemalige Nettetaler Bürger, die die Spätlese, von Verwandten, Freunden oder wie im nachfolgenden Fall Schulfreunden zugeschickt bekommen, verfolgen die Geschichten mit großer Aufmerksamkeit. Ein wichtiges Gebäude auf der Elisabethstraße war die alte evangelische Kirche.


Ansicht 1922


Ansicht 2003

Nachfolgend nun - in Auszügen - ein Leserbrief von Hannes Girmes aus USA:

Wir "Amerikaner" schätzen und lesen die Nettetaler Spätlese ausführlich. Das sind Erinnerungen an früher, an den Niederrhein. Beim Beitrag, Chronik der Elisabeth- und Friedrichstraße' vermisse ich allerdings Einiges.

Es beginnt mit den Jahreszahlen. Woher sollen zugezogene und jüngere Leser wissen, wann es diesen schönen Hemelsplatz mit den spielenden Kindern, dem kleinen Wanderzirkus und den Pullekes gab. Ich sehe das als Bilderbuch vor mir aber nicht als echten Teil des Lebens in Lobberich. Das habe ich verpasst. Ich kam 1948 nach Lobberich.

Ein wichtiger Bestandteil dieser Ortsecke war damals für evangelische Kinder oder Bürger die recht alte, kleine, unscheinbare Evangelische Kirche. Dort oben im Gebäude war ein Unterrichtsraum und unten unsere Konfirmation. Dieses Gebäude sollte ausführlicher erwähnt worden sein - speziell in einer Gemeinde, die bis zum Ende des zweiten Weltkrieges so mehrheitlich katholisch war, dass die evangelische Kirche versteckt und unbedeutsam war.

Diese Kirche wurde dann in den 50-ziger Jahren von der Textilveredlungsfirma Dr. Girmes KG gekauft und als Stofflager "entweiht" weil es in dieser Ortsecke sonst keine Erweiterungsmöglichkeit gab.

Für viele Jahre war dieses kleine Textilunternehmen mit seinen Geräuschen, Gerüchen und LKW-Verkehr doch wohl der Puls dieser Ortsecke, zum Guten und zum Schlechten. Und dort fanden etwa 50 Familien ihr Auskommen über viele Jahre von etwa 1950 bis etwa 1985.

Ja, Frau Dr. Laus' erinnere ich zu gut. War ich doch ihr regelmäßiger Patient. Ihre geheimnisvolle "Teertinktur" gab immer Erleichterung bei üblen Halsschmerzen.

Auch der versteckte, kleine Hintereingang zum Haus und zum großen Garten der Familie Selbach sowie das Rechtanwaltsbüro Schmitz-Minten an der Ecke, das Büro, das mir manches Mal aus der Patsche half, trugen dazu bei, dass die Elisabeth- und Friedrichstraße auch für mich ein wichtiger Bestandteil meiner Kindheit und Jugend in Lobberich war. gez. Hannes Girmes

Die Redaktion freut sich über Kritik und wir werden in Zukunft bei unseren Berichten von früher näher auf die Jahreszahlen eingehen. Die Elisabethstraße in den dreißiger Jahren wurde in unserer letzten Ausgabe beschrieben. Zu dieser Zeit gab es auch den Hemelsplatz.


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Elisabethstraße in Lobberich