WERNER JAEGER IN BERLIN

von Dr. Theo Optendrenk


Werner Wilhelm Jaeger (1888-1961), der berühmteste Sohn der Nettetaler Altgemeinde Lobberich und einer der bekanntesten Altphilologen seines Jahrhunderts, ist bereits in zwei Beiträgen seines bekanntesten Schülers Prof. Dr. Wolfgang Schadewaldt im Heimatbuch des damaligen Kreises Kempen Krefeld gewürdigt worden: zuerst unmittelbar nach seinem Tode ( HB 1962, S. 183-85), danach durch den Abdruck der am 12. Juli 1962 an der Freien Universität Berlin gehaltenen Gedenkrede ( HB 1970, S. 91-99). Die 120. Wiederkehr seines Geburtstages soll im Folgenden zum Anlass genommen werden, neuere Erkenntnisse über das Wirken des Gelehrten mit den bereits bekannten Fakten zu einem dichteren Bild zusammenzufügen. Im Mittelpunkt der Betrachtung soll Jaegers für die deutsche Wissenschaftsgeschichte besonders ertragreiche Berliner Zeit (1921-1936) stehen. Sie wurde durch die Emigration in die USA beendet. Für seine Familie, aber auch für ihn als akademischen Lehrer stellte die Auswanderung, die durch die jüdische Herkunft seiner Ehefrau Ruth erzwungen war, eine kaum beschreibbare Zäsur dar. Nicht nur die Diskussion um sein wissenschaftliches Werk und die Fortsetzung der von Jaeger initiierten und begonnenen Werkeditionen, speziell der des Kirchenvaters Gregor von Nyssa, haben die Aufmerksamkeit immer wieder auf Jaeger gerichtet. Von großem Interesse sind auch die seit den 80er Jahren geleisteten biographischen Forschungen zu seiner Person. Der Berliner Philologe und Ordinarius Eckart Mensching hat es in besonderer Weise unternommen, das Wirken Werner Jaegers in seiner ganzen Vielfalt darzustellen.1 Authentische Zeugnisse bietet für die Zeit nach Jaegers Wechsel von Basel nach Kiel (1915) bis zum Ende der zwanziger Jahre der Briefwechsel Jaegers mit seinem Freund Johannes Stroux. In der kurzen gemeinsamen Baseler Zeit (Stroux hatte dort eine Professur mit dem Schwerpunkt für lateinische Philologie, Jaeger für griechische inne) hatte sich eine Freundschaft entwickelt, die zu einem offenen und vertraulichen brieflichen Meinungsaustausch über viele fachliche und persönliche Fragen führte. Angereichert durch Menschings profunde Kenntnis der Fachszene wird an Hand dieses Briefwechsels eine Fülle von Fakten zu Leben und Wirken Jaegers vor allem in Berlin (ab 1921) gewonnen. Um eben diese Fülle zu strukturieren, bedient sich Mensching besonders der Begriffe Humanist und Großordinarius, wohl wissend, dass sich die in diesen Begriffen gefassten Tätigkeiten und Sachverhalte in Teilen überschneiden und dass zudem nicht alle beruflichen Vorgänge unter diese Begriffe subsumierbar sind. Dennoch scheint eine solche Zuordnung - mit einigen ergänzenden Hilfen - geeignet, Entstehung und Wesen von Jaegers Wirken und Einfluss bis zu seiner Emigration im Jahre 1936 nachzuzeichnen. Die Liebe zu den Griechen Von einem Professor für Klassische Philologie hat man zu allen Zeiten erwartet, dass er in hervorragender Weise das Lateinische und (Alt-)Griechische beherrschte und, wenn auch mit individuellen Gewichtungen, sehr gute Kenntnisse in beiden Literaturen besaß. Beide zusammen bilden die sprachliche Grundlage der Altertumswissenschaft. Invielen Belangen war die griechische Literatur Vorbild für die römische, d.h. lateinische. Die gebildeten Römer der späten Republik und zumindest der frühen Kaiser­ zeit waren selbstverständlich zweisprachig . Viele von ihnen hatten in Athen, auf Rhodos oder in anderen griechischen Bildungszentren Philosophie und Rhetorik studiert, um sich für das öffentliche Leben in Rom zu wappnen . Seit der Ausbreitung des Imperium Romanum, spätestens seit dem 3. vorchristlichen Jahrhundert, waren die Römer in Unteritalien und Sizilien in einen intensiven kulturellen Austausch mit dem Griechentum getreten. Sie selbst nannten diese seit Jahrhunderten in mehreren Wellen gegründeten griechischen Kolonien Magna Graecia: Großgriechenland. Seit der Zeit Alexanders des Großen und der seiner Herrschaft folgenden Diadochenreiche sprach man im ganzen östlichen Mittelmeerraum bis zum Schwarzen Meer und in Ägypten griechisch. Nicht zufällig ist die Koiné, das Griechische der frühen Kaiserzeit, die Sprache des Neuen Testaments. Die auf ihm fußende Literatur der Kirchenväter ist teils in griechischer, teils in lateinischer Sprache verfasst. Diese Zweisprachigkeit des antiken Mittelmeerraums findet ihren Niederschlag in den Überresten des Alltags, diese wiederum im Entstehen neuer Hilfswissenschaften, etwa zu den Inschriften (Epigraphik) und den Münzen (Numismatik). Vor allem der Gelehrtenfleiß des 19. Jahrhunderts bescherte der Welt einen gewaltigen Wissens­ zuwachs. Dies führte auch zu einer Spezialisierung innerhalb der Altertumswissenschaft. Neben der Archäologie etablierte sich besonders die Alte Geschichte als ge­ sondertes Forschungsgebiet. Inder Klassischen Philologie selbst bildeten sich Schwerpunkte der Forschungs- und Lehrtätigkeit heraus. Der Latinist spezialisiert sich auf die lateinische Sprache und Literatur, der Gräzist auf das Griechische. Eine breite Spur des Philhellenismus, der Liebe zum Griechentum, zieht sich durch die europäische Geistesgeschichte, besonders in Italien und Deutschland. Renaissance und Humanismus in Italien wurden ausgelöst durch die griechischen Gelehrten, die vor dem sich ausbreitenden Islam flohen. Nördlich der Alpen erreicht der Humanis­ mus seinen Höhepunkt in der Gestalt des Erasmus von Rotterdam (1466/69-1536). Ein neuer Impuls zur Beschäftigung mit den Griechen ging insbesondere von dem Archäologen Johann Joachim Winckelmann (1717-68) aus. Er lenkte den Blick von Barock und römischer Kunst auf die Griechen. Mit seiner Wertung der altgriechischen Kunst (edle Einfalt und stille Größe) gab er auch der Literatur der deutschen Klassik ihr Ideal vor. Nicht nur die Rezeption durch deren herausragende Vertreter, besonders Herder und Goethe, sondern auch die von Dichtern (Mörike, Stifter u .a.) geschaffenen Übertragungen griechischer Werke lösten eine Welle der Griechenbegeisterung aus. Durch Wilhelm von Humboldt findet diese Eingang in die Bildungstheorie und in die Konzeption des Humanistischen Gymnasiums.2 Humboldt war auch entscheidend an der Gründung der Berliner Universität im Jahre 1809 beteiligt. Sie trat während des ganzen 19. Jahrhunderts durch die Pflege der Altertumswissenschaft hervor. Ihre her­ ausragenden Vertreter waren Theodor Mommsen (ab 1858) u nd ab 1897 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff (1848-1931), Lehrer Werner Jaegers und vor diesem der herausragende Gräzist deutscher Sprache. Die Erforschung der griechischen Kultur bestätigte immer aufs Neue, was Liebe und Bewunderung in ihr gesehen hatten. Genialität und Originalität, wie sie die deutsche Klassik zum Maßstab des wahrhaft Großen erhoben hatten, fand man in Kunst und Literatur der Griechen, ja im Vergleich mit den Römern, wie man meinte, nur bei ihnen. Die Ursprünge wichtiger literarischer Genera liegen bei den Griechen. Für die folgenden Jahrtausende haben sie der abendländischen Kultur Maßstäbe gesetzt. Das homerische Werk mit Ilias und Odyssee begründete das Epos. Die anschließende lyrische Epoche mit Sappho, Alkaios u.a. und die das 5. vorchristliche Jahrhundert prägenden großen Dramatiker, die Tragödiendichter Aischylos, Sophokles und Euripides sowie der Komiker Aristophanes, haben für die Literatur des Abendlandes ebenso Vorbildcharakter wie Herodot, der Vater der Geschichtsschreibung, und sein groß­ artiker Historikerkollege Thukydides. Die Philosophie, von den jonischen Natur­ philosophen begründet, fand in den Werken von Platon und Aristoteles ihren Höhe­ punkt und wurde in den hellenistischen Schulen von Stoa und Epikureismus (Kepos) fortgeführt. Es war diese herausragende Bedeutung der griechischen Literatur, Kunst und Kultur, die - bei aller Hochachtung vor technisch-organisatorischen und politisch­ militärischen Leistungen des Römertums - den Vorrang des Griechischen gegenüber dem Lateinischen im Verlaufe des 19. Jahrhunderts begründet hatte, und damit fast zwangsläufig das herausragende Ansehen der Gräzisten gegenüber allen anderen Vertretern der Altertumswissenschaft. Als Gräzist gelangte auch Werner Jaeger zu frühem Ruhm.

Der Gräzist

Im März 1921 erhielt Werner Jaeger den Ruf nach Berlin. Wovon fast alle seine Fachkollegen ein Leben lang vergeblich träumten, das hatte Jaeger mit 32 Jahren erreicht. Nach seinen Anfängen in Basel 1914-15 war er knapp sechs Jahre ordentlicher Professor in Kiel gewesen, hatte während dieser Zeit 1919 (Februar bis April) in einem Zwischensemester in Hamburg eine Lehrstuhlvertretung wahrgenommen und dadurch wie auch durch einen großen Vortrag über Die geschichtlichen Grundlagen des modernen Humanismus großen Eindruck hinterlassen. Als er im gleichen Jahr den Ruf auf den gräzistischen Lehrstuhl in Hamburg erhielt, lehnte er ab. Es war Jaeger ver mutlich bekannt, dass die beiden Berliner Gräzisten Hermann Diels und Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, beide 1848 geboren, die Pensionsgrenze von 70 Jahren überschritten hatten und in nächster Zeit in den Ruhestand gehen würden. Als Jaeger im Herbst 1921 Wilamowitz auf dessen Berliner Lehrstuhl folgte, war er trotz seines jugendlichen Alters als Gräzist bereits hervorragend ausgewiesen, nämlich mit zwei Monographien und zwei Editionen. Am 5. Juli 1911 hatte Jaeger mit Studien zur Entwicklungsgeschichte der M etaphysik des Aristoteles bei Wilamowitz in Berlin promoviert. Sein Nachweis, dass dieses Werk des Aristoteles nicht zusammenhängend konzipiert, sondern als eine Sammlung von Vorträgen aus verschiedenen Entwic lungsphasen veröffentlicht worden sei, widersprach der bis dahin gängigen Lehrmeinung, fand aber neben Widerstand vor allem Zustimmung. Mit seinen Interpretationen, die philologisch und philosophisch auf sehr hohem Niveau standen, beindruckte Jaeger die Fachwelt. In ihnen scheint sich der Weg des Gräzisten Werner Jaeger schon früh abzuzeichnen. Seinen philosophischen, aber auch seinen theologischen Interessen geht Jaeger in seiner 1914 abgeschlossenen Habilitationsschrift nach: Nemesios von Emesa. Quellen­ forschungen zum Neuplatonismus und seinen Anfängen bei Poseidonios. Nemesios war um 400 n. Chr. Bischof von Emesa (Horns in Syrien). In griechischer Sprache verfasste er das Buch Über die Natur des Menschen. Sein christlich beeinflusster Neuplatonismus geht in der Psychologie auf Platon, Aristoteles und den auch in Rom einflussreichen Historiker, Naturforscher und Philosophen Poseidonios (135-50 v. Chr.), in der Physiologie auf den Arzt und Medizinschriftsteller Galenos aus Pergamon (130-200 n. Chr.) zurück, der in Rom als kaiserlicher Leibarzt wirkte. Die Geschichte der antiken Medizin und ihrer Vorstellung vom Menschen sollte Jaeger auch später fesseln. Sie fand ihren Ausdruck u.a. im Werk über den auf Euböa geborenen und im 4. vorchristlichen Jahrhundert in Athen lebenden Arzt und Naturforscher Diokles von Karystos (erschienen erstmals 1938), in das Studien aus mehr als zwei Jahrzehnten Eingang fanden. Diokles galt nach Hippokrates als der bedeutendste griechische Arzt. Im Auftrage der Preußischen Akademie der Wissenschaften leitete Jaeger von 1924-36 die Arbeit an der Schriftensammlung der griechischen Ärzte, dem Corpus Medicorum Graecorum. Wie sehr Jaegers Wirken den Impuls zu einem ganzen Jahrhundert des Forschens gegeben und Maßstäbe gesetzt hat, lässt sich am Beispiel seiner Edition des Kirchenvaters Gregor von Nyssa dartun. Gregor war einer der drei bedeutenden Kirchenväter aus dem kleinasiatischen Kappadokien, zu denen auch sein älterer Bruder Basilius gehört. Um das Jahr 340 n. Chr. geboren, wurde Gregor um das Jahr 370/71 Bischof des neu geschaffenen Bistums Nyssa. Wie Basilius spielte er eine herausragende Rolle in der theologischen Diskussion um die Dreifaltigkeit und trug zur Begründung derjenigen Positionen bei, die auf dem Konzil von Konstantinopel (381) dogmatische Verbind­ lichkeit erhielten. Zum 60. Geburtstag von Jaegers Berliner Lehrer Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff hatten dessen Freunde eine Stiftung zusammengetragen, die der Geehrte dazu be­ stimmte, die Werke Gregors von Nyssa in einer textkritischen, das heißt: einer unter Würdigung aller überlieferten Handschriften wissenschaftlich fundierten Ausgabe erscheinen zu lassen, allein angesichts des gewaltigen Umfangs der zu bewältigenden Arbeit eine Aufgabe für eine jüngere Gelehrtengeneration. Wilamowitz wollte hiermit eine Lücke der Forschung schließen, wobei er Gregor nicht zu den ganz Großen der Kirchengeschichte rechnete, sondern als tüchtig, redlich und liebenswürdig klassifizierte.3 Wilamowitz wählte für die Edition selbst ... Werner]aeger, damals, 1911, im 24. Lebensjahr, und er wählte damit in einzigartiger Voraussicht gerade den Gelehrten, der seine Ansicht über die Geltung Gregors von Nyssa in allem widerlegen sollte. Und dies nicht, weil Werner Jaeger von vorn herein diesem Kirchenvater mehr als anderen, oder mehr als Platon und Aristoteles gewogen gewesen wäre, sondern weil er sich im Lauf der Jahre dem Einfluß Gregors nicht entziehen konnte.Wenn man aus späteren Schriften Werner Jaegers den Eindruck gewinnen könnte, er habe seinen Autor allzu nahtlos in sein Bild der Paideia eingefügt und ihn damit überfremdet, so möge man daran denk en, daß es Gregor von Nyssa war, der den Gelehrten von derfrühen Zeit an beschäftigt hat, als sich in diesem das Konzept der Paideia formte. 4 1921, im Jahre von Jaegers Wechsel nach Berlin, erschienen die beiden ersten, von ihm allein besorgten Bände der Gregor-Edition, in der Sichtung und Würdigung aller alter Handschriften Vorbild und Maßstab für alles Folgende . Die umfangreichen Vor­ arbeiten zu Gregors kleineren dogmatischen Werken nahmen lange Jahre in Anspruch. Den Plan, sie selbst herauszubringen, gab er nach dem Entschluß, Deutschland zu ver­ lassen, auf 1935 übergab er Material und Auftrag seinem Schüler Friedrich Müller. 1939 erhielt ]aeger mit der Einrichtung des Harvard Institute for Classical Studies, das er bei der Berufung an die Harvard University erbeten hatte, in großzügiger Weise die Mittel, Gregors Edition angemessen weiterzuführen.5 Mit eigenen Schülern und Mitarbeitern führte Jaeger die Forschungen an diesem Institut weiter. Dies wie auch die Arbeiten von Friedrich Müller in Deutschland führte zu weiteren Veröffentlichungen. Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm Jaeger durch Besuche in Deutschland auf die dortigen Forschungen Einfluss und fand vor allem in seinem letzten deutschen Schüler Hermann Langerbeck einen begeisterten und kom­ petenten Mitstreiter. Als Langerbeck jedoch wenige Jahre nach Jaeger starb, kam es nach 1964 zu einer geteilten Herausgeberschaft . In der Nachfolge Langerbecks führt bis heute Hadwig Hörner (Frankfurt) die Edition fort. Der Münsteraner Altphilologe Heinrich Dörrie entwickelte aus den ihm übertragenen Aufgaben eine eigene Forschungsstelle Gregor von Nyssa, die seit 1983 unter der Leitung des Kirchenhistorikers Wolf-Dieter Hauschild steht. Auch wenn das auf 10 Bände ausgelegte Werk bis heute noch nicht vollständig vorliegt, beweist doch die Fülle der Publikationen zu Gregor von Nyssa bis auf den heutigen Tag die nachhaltige Wirkung des 1911 von Jaeger begonnenen Unternehmens. Blicken wir zurück auf Jaegers Anfänge als Ordinarius in Berlin, also ins Jahr 1921, so konnte er zu diesem Zeitpunkt auf zwei Bände der Edition Gregor von Nyssa, auf eine Aufsehen erregende Dissertation zur Metaphysik des Aristoteles und die Habili­ tationsschrift über Nemesios von Emesa verweisen. Wichtige Vorträge und Publikatio­ nen hatten seinen Ruf als Philologen gefestigt, aber auch den des Bildungsphilosophen begründet. Viel Zeit und Kraft hatte die Gregor-Edition gekostet. Dass das zentrale Anliegen des Philologen die Deutung der Texte sein müsse, hatte er immer wieder klar gemacht, sehr treffend schon in seinem Hambu rger Vortrag vom 21. März 1919: Auch das höchste Werk Bachs und Beethovens ist nur ein Haufe bedrucktes Papier ohne die Seele des Künstlers, der es interpretiert. Und für die Tragödien des Sophokles und Aischylos, für die Dialoge Platos gilt dieselbe Forderung. Haben wir sie nicht erfüllt, so waren wir schlechte Knechte und haben nur an uns gedacht.6 20 Monate nach seinem Amtsantritt in Berlin legte Jaeger seinen Aristoteles vor, nicht nur von seinem Umfang her sehr bald als opus magnum gerühmt. Auf mehr als 400 Seiten stellte Jaeger seine Sicht der aristotelischen Philosophie auf der Basis der eigenen philologischen Forschungen dar. Zu Recht hat man auf die unerhörte Produk­ tivität hingewiesen 7, die er in den Jahren 1914-1923 an den Tag gelegt hatte. Begünstigt war diese durch die Tatsache, dass Jaeger (aus gesundheitlichen Gründen) nicht zum Kriegsdienst eingezogen war. Zwar hatte er bisweilen Vertretungen für Kollegen über­ nehmen müssen, die im Felde waren. Andererseits war die Anzahl der Studenten zeit­ weilig geringer als zu normalen Zeiten, und zweimal war es ihm im besagten Zeitraum auch gelungen, in einem Forschungssemester von Lehrverpflichtungen befreit zu wer­ den. Das Zugeständnis von Forschungssemestern hatte schon in den Verhandlungen für den Berliner Lehrstuhl eine Rolle gespielt und sollte es später auch in Chicago und Cambridge/Mass. tun. Hier scheint angesichts von Jaegers enormem intrinsischem Antrieb u nd seinen außeruniversitären Verpflichtungen bis zur Emigration beinahe das einzige Korrektiv für die permanente Belastung bestanden zu haben. Jaeger spricht in Briefen an seinen Freund Johannes Stroux die daraus drohenden Gefahren mehrfach an, und sein Schüler Friedrich Solmsen erinnert sich gar, Jaeger habe in dieser Zeit fast immer überarbeitet gewirkt.8 Spätestens die Aristoteles-Monographie machte Jaeger zu einem der bedeutendsten Gräzisten seiner Zeit, und dies im Alter von erst 35 Jahren. Dabei hatte er noch längst nicht alle Früchte seiner Arbeit -vor allem der Kieler Jahre -ernten können. Hier hatte er unter Einbeziehung bisher unberücksichtigter antiker Quellen eine neue text­ kritische Ausgabe von Aristoteles' M etaphysik erstellt. Diese war, wie wir ebenfalls aus Briefen an Stroux wissen, im Sommer 1918 fertiggestellt. Papiermangel hinderte jedoch den Leipziger Verlag Teu bner, sein Druckversprechen einzulösen . Auch die Wirren der Nachkriegszeit und die Geldentwertung zögerten das Erscheinen der M etaphysik ­ Ausgabe heraus, zumal Jaegers Aufmerksamkeit nun auf das Erscheinen seiner Mono­ graphie gerichtet war. Da erscheint 1924 eine Metaphysik-Ausgabe seines englischen Kollegen W. D. Ross und verändert die Marktlage grundlegend, so dass man von einer zusätzlichen Edition Abstand nimmt - auf lange Zeit. Erst 1957 wird Jaegers Ausgabe als Oxford Classical Text in erweiterter Form herausgegeben. Die durch den Aristoteles ausgelöste wissenschaftliche Diskussion beschäftigte auch Jaeger selbst immer wieder. Auf harten Widerstand stieß seine Sicht des Aristoteles vor allem bei dem Berliner Philologen Paul Gohlke und dem Wiener Ordinarius Hans von Arnim. Obwohl Zustimmung und Bewunderung für Jaegers Leistung weit überwogen, nahm dieser das Erscheinen von Publikationen zu Aristoteles und benachbarten Themen gern zum Anlass, in Rezensionen die eigene Position immer wieder zu begründen und zu festigen. In einem großen Werk werden seine Forschungen erst wieder 10 Jahre später sichtbar: mit dem ersten Band der Paideia. Deren zweiter Band erscheint erstmals 1944, der dritte 1947. Der Verlag de Gruyter (Berlin) hat alle drei Bände in einem un­ gekürzten photomecha­ nischen Nachdruck in einem Band zusammen­ gefasst (1973). Die Formung des griechischen Menschen -so der Unter­ titel der Paideia - hat den Autor als Leitidee über Jahrzehnte begleitet und fasziniert. Dieses Werk hat seinen Ruhm bis heute weit über den Kreis der Altphilologen hinaus begründet. Die Erträge intensiver Forschertätigkeit werden oft erst spät sichtbar. Die Edition des Gregor von Nyssa, das Aristotelesbuch, die Paideia und erst recht die Herausgabe der Metaphysik haben dies in Jaegers Werk gezeigt. Drei Jahre nach seiner Auswanderung erscheint in Berlin sein DemiJ sthenes. Wie Jaeger im Vorwort selbst berichtet, hat er diesem Autor bereits 1914 seine erste Vorlesung in Basel gewidmet. Als im Jahre 1932 an ihn die Einladung der University of California in Berkeley erging, 1934 die jährlich nach einer wohlhabenden Mäzenin benannten Sather Lectures zu halten, verfasste Jaeger eine Reihe von Vorträgen, die in Thematik und Präsentation großen Eindruck hinterließ. Demosthenes, der berühmteste attische Redner (384-322 v. Chr.), der die Freiheit der Griechen beschwor und den Widerstand gegen Philipp II. von Makedonien, den Vater Alexanders des Großen, mobilisierte, nahm in Jaegers Darstellung die Zuhörer gefangen . Dessen Ziel war eine Neuinterpretation der Reden des Demosthenes als des authentischen Ausdrucks seines politischen Denkens und Handelns 9

Angesichts der Geringschätzung, die Demosthenes in der damaligen Forschung als Staatsmann erfahren hatte, betonte Jaeger, ohne Demosthenes sei es ganz unmöglich, den geistigen und politischen Schicksalskampf der Griechen im IV. Jahrhundert zu verstehen. Jaeger sprach vor einem Publikum, das von der geistigen und politischen Auseinandersetzung der eigenen Zeit sensibilisiert und daher für historische Parallelen zugänglich war. Zusammenhänge zwischen Jaegers Berkeley-Auftritt und dem Ruf nach Chicago, der zwei Jahre später eine wirtschaftlich abgesicherte Auswanderung ermöglichte, sind nicht im Letzten beweisbar, aber wahrscheinlich.

Humanist und Großordinarius

Als der Berliner Professor Eckart Mensching in den 80er Jahren den Briefwechsel Werner Jaegers mit seinem Freund Johannes Stroux auswertete, trat ihm besonders für die Berliner Zeit (1921-36) Jaegers Wirken in einer ungewöhnlichen Breite und Fülle entgegen. Auf zahlreichen Plätzen und mit unterschiedlichen Instru mentarien warb Jaeger für die Bildungsinhalte der Antike. Dies brachte ihm letztlich den Ruhm ein, Begründer eines dritten Humanismus zu sein. Jaeger setzte für dieses Werben nicht nur die Ergebnise des eigenen Forschens ein. Er suchte das Verbands- und Tagu ngswesen als permanent wirkende Multiplikatorenebene für Wissenschaft und Schule zu entwickeln, indem er Foren zur Verbreitung humanistischer Bildungsziele schuf: große Auditorien, Vereinigungen und Zeitschriften. Über seine hervorragenden Beziehungen zum preußischen Kultusministeriu m nahm er Einfluss, vor allem auf die Besetzung von Lehrstühlen im Bereich de.r Altertumswissenschaft. 12 von 23 deutschen Universitäten lagen im Lande Preußen. Für sie fielen alle gravierenden Entscheidungen in Berlin, wo Jaeger in einem vertrauensvollen Dialog mit dem Staatssekretär und Minister (1921; 1925-30) Prof. Carl Becker und dem Ministerialrat Richter stand. - Um all diese Funktionen und Wirkungsweisen zusammenzufassen, bediente sich Mensching des Begriffspaars Humanist und Großordinarius, das im Folgenden mit Inhalt gefüllt werden soll. Humanismus ist überall zugegen, wo die Antik e als lebendige Größe empfunden wird und als erzieherische Kraft gegenwärtig ist. In diesem geschichtlich wohlbegrün­ deten Sinne hat es Humanismus schon lange vor den Humanisten der Renaissance gegeben und wird es ihn auch nach ihnen geben, und zwar, wenn wir auf das Grund­ phänomen dieses Erziehertums zurück gehen, in doppelter Bedeutung des Wortes: erstens als die unmittelbare oder durch andere M edien übertragene erzieherische Einwirkung der griechischen Kultur auf die Völker des europäischen Kulturkreises und ihre Dependenten ... und zweitens als Prinzip der Jugendbildung, als Bildungsideal impädagogischen Sinne des Wortes, ein Prinzip, das gleichfalls bei allen europäischen Völkern und ihren k ulturellen Dependenten sich findet, und zwar wiederum nur bei ihnen, bei ihnen aber ausnahmslos. 10 Humanismus, so Jaeger, könne sich nicht damit begnügen, auf einer bloßen ästhe­ tischen Freude an den Werken der Alten aufzubauen oder die Vorbildlichkeit des Griechischen in Kunst und Literatur herauszukehren, wie dies etwa der Klassizismus getan hatte. Entscheidend sei, wie die Griechen als Erzieher in den Menschen einer Zeit wirkten. Die Griechen sind die Meister der übrigen Völker geworden, weil sie das bewegende Prinzip der abendländischen Geisteswelt entdeckt haben, durch das sie sich von allen Welten, die wir k ennen, unterscheiden. Diese causa movens unserer Geschichte ist das Prinzip der Kultur. Diese Kultur erweise sich darin, die höchste aller Aufgaben zu leisten: die Erziehung des Menschen oder besser gesagt: die Erziehung zum Menschen. Die Deutung des Humanismusbegriffs ist für Jaeger also schon früh verbunden mit dem der Paideia, der Formung des ... Menschen, wie er sie in seinem späteren Werk für das Griechentum als wesentlich und charakteristisch nachzuweisen bemüht ist. Ursprünglichkeit und frühe Vollendung dieser Kulturwelt setzen die Maßstäbe und geben dem Humanisten den Antrieb, die Begegnung mit dieser Welt zum prägenden Erlebnis menschlicher Bildung zu machen.

Auf welche Weise nun gelang es Werner Jaeger, dieser Deutung von Humanismus so viel Publizität und Einfluss zu gewinnen, dass man ihn als Begründer eines dritten Humanismus bezeichnet hat? Es scheint Jaeger schon früh klar gewesen zu sein, dass eine wirkungsvolle organisatorische Hilfe für sein öffentliches Werben nur dadurch geleistet werden könne, dass neben den herausragenden Vertretern der Altertumswissen­ schaften prominente Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens sein Bemühen unter­ stützten. Hierfür schuf Jaeger 1924 - er war jetzt drei Jahre in Berlin - ein Forum: die Gesellschaft für antike Kultur. 11 Jaeger selbst war ihr Gründer, Vorsitzender und geistiger Lenker. Er bildete einen Arbeitsausschuss, dem 10 fachlich bestens ausge­ wiesene Altertumswissenschaftler angehörten. Für den Gründungsaufruf hingegen hatte Jaeger auch einen weiteren Kreis des gesellschaftlichen und politischen Lebens gewinnen können, etwa Generalmajor von Haeften, Hugo von Hofmannsthal, Frei­ herr Krupp von Bohlen und Haibach, Staatssekretär Johannes Popitz, Staatsminister Friedrich Schmidt-Ott, Emil Georg von Strauß, Direktor der Deutschen Bank, Kommerzienrat Oscar Mey und Joachim von Winterfeldt-Menkin, Landesdirektor der Provinz Brandenburg . Der Zweck der Gesellschaft ist, die wissenschaftliche Erk enntnis der antik en Kultur für das Geistesleben der Gegenwart fruchtbar zu machen. Dieser Zweck soll u. a. durch die Herausgabe einer Zeitschrift und durch Vorträge erreicht werden. (§ 2) Einige Jahre ist diese Zeitschrift die einzige Lebensäußerung der Gesell­ schaft, die sich erst Mitte Dezember 1928 endgültig konstituiert. Vorsitzender wird jetzt Dr. Johannes Popitz, Staatssekretär im Reichsfinanzministerium und Honorar­ professor an der Berliner Universität; Jaeger wird stellvertretender Vorsitzender. Der Schatzmeister Cram ist im Verlag de Gruyter an herausgehobener Stelle tätig. Die Positionierung Jaegers und die Bestellung eines Generalsekretärs (K. Lehmann­ Hartleben) dürfen als Indiz für Jaegers Bemühen gedeutet werden, die Lasten auf mehr Schultern zu verteilen. Obwohl es für einige Jahre gelungen ist, diesem Verein öffentliche Wahrnehmung zu verschaffen, kann aus heutiger Sicht die angesprochene Zeitschrift als schönste Frucht seiner Arbeit angesehen werden. Die Antike erschien ab 1925 im Verlag de Gruyter und gehörte nach Qualität und Ausstattung zum Besten, was in jenen Jahren in Deutschland gedruckt wurde. Sie wurde den Mitgliedern gegen Zahlung ihres Jahresbeitrages von 30 Mark kostenlos geliefert und kostete im Buchhandel 40 Mark. Bereits im Mai 1925 konnte der Verlag de Gruyter etwa 350 Abonnenten melden. Neben Fachbeiträgen im engeren Sinne, bei denen vor allem die archäologischen zu gediegener Illustration einluden, erschienen gelegentlich auch Beiträge anderer Autoren, so der des Dichters Hugo von Hofmannsthal über das Vermächtnis der Antike (1928). Die Antike erschien in den Jahren 1925-1940 und wurde nach dem Zweiten Weltkrieg nicht wieder aufgenommen. In Antike und Abendland fand sie in der 40er und 50er Jahren thematisch eine Fortsetzung. Das Begriffspaar Humanist und Großordinarius weist in sich mancherlei Überschneidungen auf. Denn das Werben für humanistische Bildung ist oftmals verbunden mit dem wirksamen Bemühen, die Voraussetzungen für deren Verbreitung institutionell und organisatorisch abzusichern. Die Fäden hierfür liefen in den Jahren der Weimarer Republik fast immer bei Werner Jaeger zusammen. Mit klarem Blick für die Mängel und Schwächen des Bestehenden und zugleich auch für die zielführenden Wege zur Abhilfe setzte er die Impulse. Bedenkt man, wie große Trägheitsmomente bei allen Innovationen in der Regel zu überwinden sind, so erstaunt Jaegers Fähigkeit, für neue Unternehmungen die wichtigsten Vertreter der Altertumswissenschaften zu gewinnen und einzubinden. Ihnen den Grad von Mitsprache und Mitwirkung weitgehend selbst zu überlassen, sie mit drohenden Belastungen auch psychologisch nicht zu über­ fordern, war nur durch Jaegers hohen eigenen Einsatz möglich. Gelingen konnte die Realisierung dieser Initiativen nur durch die Mitwirkung der exzellenten jungen Wissenschaftler, die Jaeger als seine Schüler selbst ausgebildet hatte. Diese bewährten sich in anspruchsvollen Aufgaben und in eigenen Publikationen und Vorträgen. Derartige Chancen von Berlin aus, dem Zentrum preußischer Kulturpolitik, eröffnen zu können, seine besten Nachwuchswissenschaftler an geeignete preußische Universitäten (etwa Greifswald, Königsberg und Kiel) empfehlen zu können, steigerte Ansehen und Einfluss Jaegers nicht minder als sein persönliches Wirken und Auftreten als Denker und Lenker des wissenschaftlichen Betriebs. Alles dies definiert ein seltenes Phänomen: den Großordinarius. Das wenig ausgeprägte Tagungswesen für die Altertumswissenschaft zu entwickeln, unternahm Werner Jaeger in der Mitte der 20er Jahre durch die Einrichtung der Fachtagungen . Ihre erste fand Anfang Juni 1925 statt; ab 1926 wurde ein Zweijahres­ rhythmus gewählt. Teilnehmer waren durchweg Vertreter der Wissenschaft. Jaeger selbst hielt 1925 das Einführungsreferat: Die Einrichtung von Fachtagungen der klassischen Altertumswissenschaft. Es wird Brauch, dass in den drei großen Vorträgen einschließlich jeweiliger Korreferate je ein philologisches, ein althistorisches und ein archäologisches Thema zur Sprache kommt. Austausch von wissenschaftlichen Er­ kenntnissen, aber auch Gelegenheit zur persönlichen Präsentation sind diese Weimarer Treffen. Das Ausscheiden von Ordinarien an deutschsprachigen Universitäten setzte zeitweilig ein Karussell von Berufungen und Neubesetzungen in Gang, die einen größeren Bekanntheitsgrad gerade der jüngeren Wissenschaftler wichtig erscheinen ließen. Gewinner der Fachtagung 1928 war diesbezüglich der Jaegerschüler Wolfgang Schadewaldt, der mit einem brillanten Vortrag über die Geschichtsschreibung des Thukydides von sich reden machte. Seine zeitlich anschließende Berufung als Ordinarius nach Freiburg wird im Zusammenhang mit dieser wohlgenutz ­ ten Chance gedeutet. 12 Es ist im übrigen Schadewaldt zu verdanken, dass die Fachtagungen nach dem Zweiten Welt­ krieg wieder aufleben konnten: im Rahmen der von ihm gegründeten M ommsen-Gesellschaft. Einen Großteil der Informationen zum gesamten Spektrum der Altertums ­ wissenschaft verdanken wir einer weite­ ren organisatorischen Leistung Werner Jaegers, der Begründung der Zeitschrift Gnomon. Das griechische Wort gnomon hat die Bedeutungen Kenner, Beurteiler, Schiedsrichter und - besonders in der 1969 ehrte der damalige Kreis Kempen-Krefeld Werner Jaeger mit der dritten Prägung seiner Gedenkmedaille .

Poesie - Maßstab.

Die Wahl dieses Titels wird plausibel durch die programmatischen Aussagen, die Jaeger selbst zu den Zielen der neuen Zeitschrift zu Beginn des ersten Bandes (1925) macht: Den ersten Platz soll in der Zeitschrift die kritische Würdigung und produktive Auswertung hervorragender Werke einnehmen. Umeine tiefdringende Auseinandersetzung und gegebenenfalls auch die nähere Beleuchtung bedeutsamer Einzelheiten zu ermöglichen, ist dafür gesorgt, daß auch umfangreichen Rezensionen Raum gewährt werden kann. Neben die große, prinzipielle Besprechung soll der anspruchslosere Bericht über die Einzelforschung treten. Zu den Pflichten einer Rezen­ sionszeitschrift gehört es ferner, durch berufene Sachverständige das Urteil über die Neuerscheinungen möglichst sorgfältig zu differenzieren, und deshalb auch, wenn es notwendig wird, vor verfehlten Veröffentlichungen zu warnen. Strengste Objektivität nach allen Seiten und bewußte Überbrückung aller bloßen Schul- und M einungs­ gegensätze ist selbstverständliche Voraussetzung. Insgesamt 16 Herausgeber sorgen für die geforderte Ausgewogenheit des Urteils und decken zugleich die ganze Bandbreite der Altertumswissenschaft ab. Ergänzt werden die den Hauptteil bildenden Rezensio ­ nen durch einen Nachrichtenteil, der vor allem den Ergebnissen der archäologischen Forschung Raum für kompetente Berichterstattung geben sollte. Häufig als unzuverlässig, so Jaeger, hätten sich die Informationen aus der Tagespresse herausgestellt; dem­ gegenüber bringt der Gnomon nur auf Autopsie beruhende Berichte aus der Feder von Kennern. Der Berliner Ordinarius für Archälogie Gerhart Rodenwaldt, den Jaeger als Mitbegründer hatte gewinnen können, durfte diesbezüglich als Garant für höchste Qualität angesehen werden. Bis auf den heutigen Tag ist der Gnomon die herausragende altertumswissenschaftliche Rezensionszeitschrift, und dies weltweit. Mit klarem Blick hatte Jaeger erkannt, wie sehr ein derartiges Periodikum für die wissenschaftliche Diskussion fehlte, ungeachtet der Tatsache, dass es einschlägige und renommierte Fachzeitschriften an sich seit Jahrzehnten gab, u.a. Rheinisches Museum, Hermes und Philologus. In der Erkenntnis der Marktlücke lag jedoch nur ein Grund für den Anfang dieser Erfolgsgeschichte. Neben Jaegers eigenem hohen Einsatz trat die Auswahl eines Redakteurs, der dem Gnomon Profil geben sollte, der aber auch sein eigenes Profil in dieser Tätigkeit schärfte: sein Schüler Richard Harder, soeben promoviert, ohne Erfahrung für die neue Aufgabe, aber mit großem Vertrauen seines Doktorvaters ausgestattet, der mit sicherem Blick Harders Eignung erkannt hatte. Sein (Werner Jaegers) Bedürfnis und seine Fähigkeit, Freundschaften zu schließen und Schule zu machen, führten schon früh zu der Bildung eines auch menschlich eng zusammenhängenden Kreises von Jaeger-Schülern, der die empfangenen Anregungen über ein weiteres Gebiet in selbständiger wissenschaftlicher Arbeit ausdehnte. 13 Es gehörte zum Wirken des Großordinarius, dass die Förderung seiner Schüler sich nicht auf die Beschaffung von Stipendien oder Assistentenstellen beschränkte, sondern - wie bei Harders Gnomonstelle - exponierte Möglichkeiten zur fachlichen Bewährung geboten werden konnten. Das höchste Maß des fördernden Einflusses stellt die Möglichkeit dar, für eigene Schüler den Ruf auf einen Lehrstuhl zu bewirken. Die Ereignisse besonders in Königsberg ausgangs der 20er Jahre stellen hierfür ein Beispiel dar. Als Wolfgang Schadewaldt 1929 einen Ruf nach Freiburg annimmt, folgt ihm nach Königsberg ein weiterer Jaegerschüler: der durch seine Forschungen zu Augustinus hervorgetretene Latinist Harald Fuchs. Dass die Jaegerschule Wissenschaftler von hohem Rang hervorbrachte, zeigte sich auch daran, dass manche schon bald nach ihrer Erstberufung auch von weiteren Universitäten auf die Berufungsliste gesetzt wurden. Dennoch zeigt gerade das Beispiel Königsberg, dass die Wechselmöglichkeiten der jungen Aufsteiger auch als störend für die Kontinuität in Forschung und Lehre ange­ sehen werden konnten. Als im Jahre 1930 Harder Königsberg verlässt, wird sein Nach­ folger der SOjährige Paul Maas, von dem man ein langes Verweilen erhofft. Bedenkt man, dass der Erfolg der ]aegerleute jedes Mal einem anderen Bewerber zumindest fürs erste den Weg verstellte, so verwundert es nicht, dass sich gegen die Verstetigung dieser Entwicklung Widerstand formierte. Jaegers Konkurrenten Bruno Snell und Hermann Fränkel wird denn auch die Formulierung eines Spottverses zuge­ schrieben, in dem neben Jaeger vier seiner erfolgreichsten Schüler einbezogen werden: Läßt der Jaeger Fuchs und Wolf[ und M!Harder los, wird der Schad' im Walde riesengroß. 14 Leidtragender dieses Widerstands gegen die ]aegerleute war unter Jaegers jüngeren Schülern Friedrich Solmsen (geb. 1904, 1929 habilitiert), der erst nach seiner Emigra­ tion in die USA in Michigan und New York zum Professor aufstieg. 15 Neben Antike und Gnomon ließ Jaeger ab 1926 eine weitere Reihe erscheinen, die er in Anlehnung an die bisher von seinem Vorgänger Wilamowitz herausgegebenen Philologischen Untersuchungen mit dem Titel Neue Philologische Untersuchungen bezeichnet. Diese erweisen sich ausschließlich als Publikationsorgan für die Disser­ tationen der eigenen Schüler, bei Solmsen auch für die Habilitationsschrift. Einfluss nimmt Jaeger auch auf die Ausbildung der Gymnasiallehrer und auf die Diskussion um Schule und Lehrpläne. Mehrere Jahre ist er stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Altphilologenverbandes (DAV). Zum Profil des Großordinarius passen auch die zahlreichen Vortragsreisen ins Aus­ land, die für einen deutschen Wissenschaftler vor allem in den ersten Jahren nach dem Ersten Weltkrieg durchaus untypisch waren. Bereits im Oktober 1920 bereiste er die skandinavischen Universitätsstädte Upsala, Stockholm, Göteborg, Lund und Kopenhagen. Mit seinem Freund Johannes Stroux verweilte er 1924 mehrere Wochen bei der Familie Möller nahe Arnheim, deren Andenken vor allem das Kröller-Müller-Museum der Nachwelt bewahrt. Einladungen nach Barcelona und Madrid musste er gar aus terminlichen Gründen absagen. Aufgrund seiner in jungen Jahren gewonnenen wissenschaftlichen Reputation fielen Jaeger auch besondere Ehrungen früh zu. Gerade erst drei Jahre in Berlin, wurde er Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften, 1926 Ehrendoktor der Universität Manchester, im folgenden Jahr korrespondierendes Mitglied der Britischen Akademie in London und 1932 Ehrendoktor der Universität Cambridge (England). Bestätigt wird Jaegers Ruf als Gräzist von Weltgeltung, als 1933 der erste Band seiner Paideia (= Erziehung, Bildung) erscheint. Eine ganzheitliche Betrachtungsweise, die Suche nach einer alles durchziehenden Leitidee, hier der Formung des griechischen Menschen, dargelegt an den Zeugnissen der griechischen Frühzeit, fasziniert die fachkundige Leserschaft und ruft - natürlich - auch Widerspruch hervor.16 Der Frage, wie die abendländische Kultur in der Entwicklung des Griechentums ihre Grundlagen gefunden hat, geht Jaeger jedoch unbeirrt weiter nach. Als die beiden folgenden Bände der Paideia (1944 und 1947) erscheinen, lebt, lehrt und forscht Jaeger schon seit vielen Jahren in den USA. Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 hatte Jaeger anfangs ver­ sucht, mit einer Absage an Historismus und unpolitische Bildungsziele des 19. Jahr­ hunderts eine Brücke von der politisierten Gegenwart zu den politischen Bildungs­ idealen der Antike, besonders bei Platon, zu schlagen 17, dies jedoch sehr bald als fruchtloses Bemühen erkennen müssen. An den deutschen Universitäten etablierten sich weniger feingeistige Kräfte in Gestalt der NS Studentengruppen. Unter den 25 ideologisch untragbaren Professoren in Kiel war auch Jaegers Schüler Richard Harder, der sich durch die Mitwirkung im N.S. Kraftfahrerkorps aus der Schusslinie zog. Jaeger selbst, der zu Beginn der Weimarer Zeit die Auseinandersetzung mit dem ge­ gen die humanistische Bildung gerichteten Zeitgeist angenommen und mit beträcht­ lichen Erfolgen bestanden hatte, hat offensichtlich keine Möglichkeit gesehen, der sich ausbreitenden braunen Barbarei mit den Mitteln des Geistes beizukommen. Zu gern wüssten wir Genaueres darüber, wie es zum Ruf an die Universität Chicago gekommen ist. Die sich zuspitzende Situation an deutschen Universitäten, wahrscheinlich die für seine Frau wegen ihrer jüdischen Herkunft unkalkulierbare Lage, aber auch die noble Großzügigkeit der Universität Chicago bewogen Jaeger und seine Familie 1936 zur Emigration. Werner Jaeger war eine charismatische Persönlichkeit. Er zog große Auditorien in seinen Bann und wirkte gewinnend im privaten Gespräch durch seine früh ausgebildete fein geschliffene Form des Vortrags wie durch seine Liebenswürdigk eit und die Werbekraft im persönlichen Umgang ... 18 Jaegers Auftreten in den gebildeten Kreisen wirkte nachhaltig im Sinne der von ihm vertretenen Bildungsphilosophie. Sein leichter Zugang zu den Zentren der preußischen Kulturpolitik erleichterte Synergieeffekte in Sach- und Personalpolitik sowie in den vielfältigen Fragen der Organisation von Wissenschaft und Öffentlichkeitsarbeit. Alle diese Einwirkungs- und Gestaltungsmöglichkeiten waren durch die Auswanderung mit einem Schlag verloren. Ungeachtet seines hohen Ansehens als Wissenschaftler und seiner beachtlichen Forschungserträge, der Freude an seiner Familie und wohl besonders an seinem Haus in Watertown lebte Werner Jaeger lange Zeit in dem Gefühl, in der Gesellschaft der Neuen Welt nur schwer Fuß zu fassen. Seine Frau berichtet, dass er sich manchmal durchaus auch einsam gefühlt und sich mit dem Gedanken getragen habe, seine Biographie unter dem Titel zu schreiben: I did not belang - Ich gehörte nicht dazu. 19

Jaegers hohes Ansehen trug ihm nach dem Zweiten Weltkrieg wieder zahlreiche Ehrungen in Deutschland ein. So würdigte die Universität Tübingen seine Forschun­ gen zur Geschichte des frühen Christentums mit der theologischen Ehrendoktor­ würde. Die erlesenste aller Auszeichnungen dürfte die Zugehörigkeit zum Orden pour le Merite sein, einer Vereinigung von Wissenschaftlern und Künstlern, die 1842 ge­ gründet ist und sich selbst durch Zuwahl neuer Mitglieder ergänzt. Der Stadtrat seiner Heimatgemeinde Lobberich benannte das damalige Progymnasium nach Werner Jaeger. Er, der sich sein ganzes Leben lang mit seiner niederrheinischen Heimat ver­ bunden fühlte,20 besuchte seine Schule in den Jahren 1959 und 1961, wie das Hausbuch des Werner-Jaeger-Gymnasiums ausweist. Dieses ist die Nachfolgerin der Lobbericher Rektoratsschule, in der Jaeger die Anfänge jener Sprachen erlernte, die sein Leben entscheidend bestimmten: das Lateinische und besonders das Griechische.

Anmerkungen:

  1. hat dies in drei Folgen in der Zeitschrift: "Latein und Griechisch in Berlin" getan: Jg. 32 (1988), S. 78-109; Jg. 34 (1990), S. 86-136 und S. 171-207; erneut abgedruckt in: DERS. (Hrsg.), Nugae zur Philologiegeschichte Bd. 4 (1991}.
  2. , Von der Liebe zu den Griechen in: DERS., Ausgewählte Schriften (hrsg. von Wilfrid BÜHLER), München 1960, S. 277-291. Weiterfiihrendes zur Klassischen Philologie in Berlin findet sich bei Wolfhart UNTE, Berliner Klassische Philologen im 19.Jahrhundert in: Berlin und die Antike (hrsg. von Willmuth ARENHÖVE L und Christa SCHREIBER), Berlin 1979, S. 9-67. Siehe auch Werner JAEGER, Die Klassische Philologie an der Universität Berlin von 1870-1945 in: Studium Berolinense. Aufsätze und Beiträge zu Problemen der Wissenschaft und zur Geschichte der Friedrich­Wilhelms-Universität zu Berlin. Gedenkschrift der Westdeutschen Rektorenkonferenz und der freien Universität Berlin zur 150. Wiederkehr des Gründungsjahres der Friedrich-Wilhelms-Universität zu. Berlin, S. 459-485.
  3. könnte man WILAMOWITZ' Formulierung zu Band 1 der Gregor-Ausgabe (GREGORII NYSSENI opera 12 p. X-X I ) wiedergeben: hominem nec mentis cacumine nec civitatis aut ecclesiae regendae scientia praecellentem, sed probum, sincemm, amabilem. Vgl. Hadwig HÖRNER (Anm. 4), S. 18.
  4. , Über Genese und derzeitigen Stand der großen Edition der Werke Gregors von Nyssa in: Écriture et culture philosophique dans la pensée de Grégoire de Nysse. Actes du colloque de Chevetogne (22-26 Septembre 1969), edites par Maiguerite HAR L. Leiden 1971, S. 21. Dieser Vortrag der Frankfurter Professorin stellt, soweit erkennbar, den bisher letzten umfassenden Status zur Gregorforschung dar.
  5. HÖRNER (Anm. 4), S. 29.
  6. zitiert bei MENSCHING (Anm. 1), Jg. 32, S. 89.
  7. MENSCHING (Anm. 1), Jg . 32, S. 102.
  8. Zitiert bei MENSCHING a.a.0.
  9. Werner JAEGER, Demosthenes. Der Staatsmann und sein Wlerden. Berlin 1939, Vorwort S. VII. Dort auch das folgende Zitat.
  10. Aus dem Vortrag Humanismus und Jugendbildung (1921), abgedruckt u.a. in: Werner JAEG ER, Huma nistische Reden und Vorträge, 2. erw. Aufl. Berlin 1960, S. 41; die beiden folgenden Zitate S. 44.
  11. Ausführlich zu diesem Thema MENSCHING (Anm. 1), Jg. 34, S. 186-190.
  12. So MENSCHING (Anm. 1), Jg. 34, Hef t 3, S. 183. Den akribisch erarbeiteten und detailreichen Aus führungen Menschings sind zahlreiche Einzelheiten fiir den hier behandelten Themenbereich entnommen.
  13. Hermann LANGERBECK in seinem Nachmf auf Werner Jaeger in: Gnomon 1962, S. 101.
  14. Zitiert bei MENSCHING (Anm. 1), Jg . 34, Heft 3, S. 207 Anm . 214.
  15. Vgl. hierzu Walther LUDWIG, Amtsenthebung und Emigration klassischer Phililogen in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 7 (1984), S. 161-178; hier S. 171.
  16. In besonders scharfer Form bei Buna SNELL, Rezension von Werner JAEGER, Paideia Bd. l in: Göttingische gelehrte Anzeigen 1935, S. 329-353. Stärker differzierend Rudolf PFEIFFER , Rezension von Werner JAEGER, Paideia 1 in: Deutsche Literaturzeitung fiir Kritik der internationalen Wissenschaft, Bd . 56 (1935), Sp. 2126-34; 2169-78; 2213-19.
  17. Werner JAEGER, Die Erziehung des politischen Menschen und die Antike in: Volk im Werden 1 (1933), S. 43-49.
  18. Kurt VON FRITZ; Nachruf auf Werner Jaeger in: Jahrbuch der Bayerischen Akademie der Wissen­ schaften 1962, S. 196. Ähnlich auch Hermann LANGERBECK (Anm. 13), S. 101-105
  19. So Ruth JAEGER in ihrem Beitrag iiber Werner Jaeger in: Theo OPTENDRENK (Hrsg.), Lobberich. Ein Kirchspiel an der Nette o.j. (1987), S. 126.
  20. Zum Ausdruck kommt dies auch in den wenigen autobiographischen Zeugnissen in: Werner JAEGER, Scripta minora Bd. 1, Rom 1960: Zur Einfiilmmg S. IX-XXVIII, bes. S. X-X I.

Quelle: Heimatbuch 2008, S. 62-77
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Oberkreisdirektors des Kreises Viersen.
Nach schriftlicherAnfrage an den Kulturdezernenten wurde diese Genehmigung am am 16. September 1999 durch den Kreisarchivar erteilt.


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