Die Leute an Schwalm und Nette um 1871

NACH DEN BEOBACHTUNGEN VON DR. ALOYS SCHMITZ

Nach 1800 sind eine Reihe von geografisch-historisch-statistischen Handbüchern über die Lande am Rhein erschienen, die in dem Kapitel: Handbücher und Reisebücher meiner Uerdinger Bibliographie von 1955 zusammengestellt worden sind. Von den frühen Handbüchern ist das nützlichste, auch heute noch wertvolle Werk die "Statistik und Topographie des Regierungsbezirks Düsseldorf" von Johann Georg von Viebahn, in zwei Bänden 1836 in Düsseldorf erschienen. Einen zweiten Höhepunkt dieser Literaturgattung bilden die beiden Bände von Otto von Mülmann: Statistik des Regierungsbezirkes Düsseldorf. Iserlohn 1864-1867. Zwischen dem Erscheinen beider Bücher, zunächst 1836, dann in den sechziger Jahren, sandte die preußische Regierung allen Landräten unseres Regierungsbezirkes Verfügungen zu, nach denen möglichst jährlich von den einzelnen Kreisen statistische Übersichten aufzustellen und zu drucken waren. Der landrätliche Kommissar Beyer hat 1844 eine solche statistische Übersicht des Kreises Krefeld im Druck vorgelegt, der 1859 und 1869 weitere folgten. Wie der Kreis Moers (durch Landrat von Ernsthausen 1863 mit guter Einleitung) und der Kreis Gladbach hat auch der Kreis Erkelenz seine statistische Darstellung für die Jahre 1859, 1860 und 1861 durch Landrat Claessen herausgegeben. Vom Kreise Kempen, der 1929 mit dem Kreis Krefeld zum Landkreise Kempen-Krefeld vereinigt worden ist, erschien eine statistische Darstellung nicht im Druck.

Parallel zu diesen Bemühungen von Regierung und Landkreisen ging das Bestreben des ärztlichen Vereins des Regierungsbezirks Düsseldorf, im Zusammenwirken seiner Mitglieder an der Topographie (Ortsbeschreibung) und Statistik des Bezirkes mitzuwirken. Im August 1871 schloß der in Viersen lebende Dr. Aloys Schmitz, praktischer Arzt, Wundarzt und. Geburtshelfer, der zuvor lange Jahre in Waldniel tätig gewesen war, ein Buch von 200 Seiten ab, das den Titel trägt: Medicinische Topographie des Schwalm- und Nette- und eines Teiles des Niers-Gebietes, insbesondere der Stadt und Gemeinde Viersen. Das Buch, das in Viersen 1871 gedruckt wurde, ist heute außerordentlich selten geworden.

Dem Verfasser standen bei seiner Arbeit die statistischen Unterlagen der benachbarten Kreise zu Gebote. Er hat sich jedoch insbesondere für das Gebiet des Kreises Kempen zu allernächst auf seine eigenen Beobachtungen in jahrzehntelanger Arzttätigkeit verlassen. Seine nüchternen und objektiven Feststellungen beziehen sich auf das Nette-Gebiet, das Schwalm-Gebiet und, wie der Titel einschränkend sagt, einen Teil des Niers-Gebietes, hier vor allem auf Neersen und Schiefbahn. Die dem Buche beigegebene Karte verzeichnet alle Orte und Honschaften, die der Verfasser unter Wohnplätzen eigens beschreibt.

Das Buch ist in drei Abschnitte eingeteilt: die Naturverhältnisse, die Krankheitsverhältnisse und im dritten Abschnitt Stadt und Gemeinde Viersen. Im ersten Abschnitt werden die allgemeine Lage und der Boden, die Gewässer und das Klima, Flora und Fauna, der Grundbesitz und die Verkehrsstraßen beschrieben. Von besonderem Werte sind die Bemerkungen, die der Verfasser alsdann der Bevölkerung widmet, ihren Wohnungen und allgemeinen Lebensbedingungen bis zur Kleidung, zur Nahrungsweise und der Beschäftigung. Er schließt mit Kapiteln über Volksfeste und Gebräuche, über die körperliche Konstitution und den Charakter der Einwohner, ihre geistige Bildung und körperliche Erziehung, ihre Religion und Sprache. Einige seiner Kapitel mögen hier wiedergegeben werden, um den Leser an die Daseinsbedingungen vor nun fast hundert Jahren zu erinnern und ihn in die Lage zu versetzen, eigene Vergleiche mit den heutigen Verhältnissen zu ziehen.

Walther Föhl


Dr. Schmitz gibt zunächst die Bevölkerungszahlen der einzelnen Gemeinden nach der Volkszählung von 1861 und 1867. Er stellt fest, daß die Bevölkerung in den Orten Waldniel, Breyell und Bracht leicht abgenommen habe, dagegen die Gemeinde Dülken den größten Zuwachs um 19% erfuhr. Aus dem heutigen Kreisgebiet seien genannt:
1861
1867
Zunahme
Abnahme
Burg=Waldniel 2034 2032 - 2
Kirspel=Waldniel 2060 2063 5 -
Amern St. Anton 1545 1621 76 -
Amern St. Georg 2418 2510 92 -
Brüggen 2264 2471 207 -
Dülken (Stadt) 4370 5200 830 -
Dülken (Land) 3218 3409 191 -
Boisheim 1164 1485 321 -
Lobberich 3466 3878 412 -
Breyell 5164 5164 - 9
Kaldenkirchen 2748 2905 157 -
Bracht 2515 2488 - 27
Leuth 1367 1383 16 -
Hinsbeck 2701 2739 38 -
Neersen 2455 2580 127 -
Schiefbahn 2547 2682 135 -

Die Zunahme der Bevölkerung hat, wie der Verfasser feststellt, ihren Grund in dem Geburtenüberschuß und in den Einwanderungen,, die das Aufblühen der gewerblichen Tätigkeit veranlaßte. Er bemerkt: "Die Zahl der Fremden, welche hier als Dienstboten auf dem Lande, als Weber- und Handwerksgesellen, als Fabrikarbeiter etc. ihren Erwerb suchen, ist bedeutend. Die Fabriken nehmen die Arbeiterbevölkerung fast ganz in Anspruch, und obgleich sie in den guten Fabrikjahren die Webstühle gleichsam bestürmte, so mußten dennoch männliche und weibliche Lehrlinge von dem Oberrhein, von der Mosel und aus der Eifel herübergezogen werden. Für die Ackerwirte wäre durch diese Gestaltung der Verhältnisse der größte Mangel an Dienstboten vorhanden, wenn nicht Holland, insbesondere die Provinz Limburg, das nötige Contingent stellte. Daher kommt es, daß fast auf allen Bauerngütern Dienstboten von holländischer Abkunft angetroffen werden, die übrigens, was Fleiß und Anstelligkeit betrifft, von den eingeborenen übertroffen werden. Der Zuzug der Fabrikarbeiter findet vorzugsweise aus Westfalen, Schlesien, Bayern, Württemberg, der Schweiz und Holland statt. Die hiesige weibliche Bevölkerung der dienenden Klasse zieht der ländlichen Arbeit die bequemere auf dem Webstuhle oder in den Fabriken oder den zusagenderen Dienst in einer benachbarten Stadt vor. Die Klage über Unbotmäßigkeit, Überhebung, Putz und Vergnügungssucht, weniger über Arbeitsscheu der Dienstboten ist in gegenwärtiger Zeit ziemlich allgemein.

Die Bevölkerung ist über diesen Landstrich ziemlich gleichmäßig verteilt. Meistens hat jede ländliche Familie eine Einzelwohnung, in den größeren industriellen Orten bewohnen manchmal 2, selten aber mehr als 3 Familien dasselbe Haus.

Wohnungen

Die alten Wohnungen und Oekonomiegebäude der Landleute bestehen häufig aus Fachwerkbau, der auf dem Boden oder Mauerwerk ruht, und sind mit Ziegeln, oder Rohr, oder Stroh gedeckt. Die Häuser sind aus drei Abtheilungen zusammengesetzt, nämlich aus dem geräumigen Vorhause, aus der Wohnstube mit den Schlafkammern und dem Futterhause. Mit der Wohnstube steht ein Zimmer in Verbindung, das entweder als Nebenstube oder als Schlafgemach benutzt wird. Der Wohnstube gegenüber liegen die Schlafkammern. Im Futterhause befinden sich der Heerd, der Breikessel, der Backofen, die Pumpe, die Viehställe, der Hühnerstall, die Treppe zum Söller und das Schlafgemach der Knechte. Der Boden des Vorhauses ist gewöhnlich mit Kieseln musivisch gepflastert; der Fussboden der Stuben und Schlafzimmer bald gedielt, bald ungedielt und alsdann mit Lehm ausgeschlagen. Die Fenster sind in ihrer Größe den Zimmerverhältnissen nicht angemessen und häufig sogar nicht zu öffnen. In dem Innern der Wohngebäude ist in der Regel durch unzweckmässige Anlage viel Raum verschwendet und durchweg zu wenig Licht und Luft. An das Haus schliessen sich die Schuppen und die Scheune. In der neueren Zeit ist an Stelle der alten manches neue, schöne Gehöfte getreten. In den meisten Häusern der wohlhabenden Bauern gibt es jetzt tapezirte Zimmer mit modernen Möbeln. Ueberall, namentlich in den industriellen Orten, hat sich die Häuserzahl, der zunehmenden Bevölkerung entsprechend, bedeutend vermehrt. Dabei sind die alten Häuser vielfach verändert und restaurirt und dadurch freundlicher und gesunder geworden. Der Bürger sucht seine Wohnung möglichst auszuschmücken und wohnlich zu machen. Außer dem Wohnzimmer findet sich in fast allen Häusern noch ein "Staats-" oder Empfangszimmer.

Die Wohnungen der Weber, der Handwerker, überhaupt der unbemittelten Volksklasse entsprechen meist den Anforderungen der Hygieine in keiner Weise. Die Stuben sind nicht selten Werkstätte, Wohnzimmer, Küche und Vorrathskammer zu gleicher Zeit. In diesem Raume, der die zahlreiche Familie beherbergt, wird gekocht, gebraten, gewaschen, getrocknet, kurz alle gewerblichen und wirthschaftlichen Arbeiten vorgenommen. Dass daher die darin herrschende, mit Staub, mit Kohlen-, Lampen- und Wasserdunst und allerlei Zersetzungsgasen geschwängerte Atmosphäre, für deren Reinigung dazu nicht gesorgt wird, für die Gesundheit der Bewohner höchst nachtheilig sein muß, ist selbstredend. Die Seidenwirker haben durchgängig gute, freundliche Wohnungen, nette und reinliche Arbeitsräume. Viele sind in den letzten 15 Jahren neugebaut, gewöhnlich einstöckig und nicht selten von einem Blumengärtchen umgeben. Bei allen neuen Gebäuden kommt der Massivbau und als Dachbedeckung rothe oder blaue Dachpfannen in Anwendung. Die Hau-Sockelsteine und Einfassungen kommen über Venlo von Namür oder vom Oberrhein.

In den Fabriken, namentlich in den Flachsspinnereien und Zwirnereien, in den Baumwollen-Spinnereien und -Webereien sind die localen Atmosphären nicht viel besser, wenn nicht schlechter beschaffen, wie in den Weberstuben. Mehr weniger zweckmäßige Vorrichtungen zur Lufterneuerung sind überall vorhanden; es wird aber nicht in ausreichender Weise Gebrauch davon gemacht.

Die Wirthsstuben, besonders auf dem Lande, entbehren sowohl der genügenden Räumlichkeiten, als auch der darin nöthigen Reinlichkeit und Erneuerung der Luft, die durch die Uebervölkerung und das übermässige Tabakrauchen verunreinigt wird. Tanzsäle für das tanzlustige Publicum gibt es jetzt in jedem Dörfchen und sind dieselben bei Weitem nicht immer den Gesundheitsregeln entsprechend.

Weitaus die meisten Kirchen sind zu beschränkt im Raume; dazu häufig feucht und zu wenig gelüftet. Der Kirchenbesuch ist eine sehr häufige Ursache von Krankheiten, insbesondere von Krankheitsrückfällen, am häufigsten von denen des Wechselfiebers. Die Erkrankungslisten enthalten allemal in den ersten Tagen der Woche mehr Fälle, als an den übrigen. Das sonntägliche Wirthshausleben wird freilich auch dazu beitragen. In der neuesten Zeit sind verschiedene neue Kirchen an Stelle der alten gebaut worden, so namentlich auf der Hardt, in Wegberg, Schaag, Leuth und Hinsbeck; der Bau anderer wird beabsichtigt, zunächst in Dülken und Waldniel.

Die Schullocale sind fast überall neu und solid gebaut und entsprechend situirt; jedoch sollten die Lehrer zu ihrem eigenen und der Kinder Vortheile für eine bessere Ventilation Sorge tragen.

Auf den Häuserhöfen befindet sich in der Regel die Düngerstätte, worauf die organischen Abfälle der Wirthschaft, sowie die Auswurfstoffe Platz finden und wohin nicht selten die Stalljauche und Abtritte abfliessen. Meistens entsprechen die Düngergruben weder den hygieinischen noch den landwirthschaftlichen Anforderungen. Die Jauche wird entweder in offene Gruben, oder in gemauerte und überwölbte Gewölbe, sogenannte Stallwasserkeller geleitet.

Die Einrichtung der Aborte ist durchweg unzweckmäßig. Auf dem Lande sind sie häufig nur mit einem Sitzbrette oder Bretterhäuschen versehene Schlingruben. Die gewöhnlichste Abtritt-Einrichtung ist die der gemauerten Gruben auf dem Hofe oder in den Hintergebäuden, die aber durch die häufig schlechte Beschaffenheit ihrer Umfassungsmauern den Boden in weiterer Entfernung mit ihren Zersetzungsproducten imprägniren und die Brunnen verderben.

Die Kirchhöfe sind bei Weitem nicht überall den sanitätspolizeilichen Bestimmungen gemäß angelegt. Auf dem Lande befinden sie sich noch hier und da innerhalb der Ortschaften.

Feuerung

Die Heizung der Zimmer geschieht durch gusseiserne Oefen. Sie haben verschiedene Formen und sind ihrer Form nach Topföfen, Säulenöfen und Mantelöfen. Letztere sind sehr allgemein geworden. In den Küchen sind gewöhnlich Kochheerde von Mauerziegeln aufgeführt und mit einer eisernen Platte versehen, oder von Eisen. Feuerheerde finden sich nur in den alten Häusern auf dem Lande und zwar im Hinterhause. Die kleineren Leute benutzen zum Kochen fast zu jeder Jahreszeit den in ihrer Stube befindlichen Ofen. Da die Oefen in den Zimmern geheizt werden, so sind die Zimmer nicht immer frei von Rauch und Staub, die höchst nachtheilig auf die Respirationsorgane wirken.

Das Feuerungsmaterial besteht aus Holz und Steinkohlen. Das Brennholz ist entweder Schanz- oder Scheitholz von Eichen, Buchen, Birken, Erlen oder Föhren. Die Steinkohlen werden bezogen theils aus dem Wurmrevier bei Aachen, theils und vorzugsweise von der Ruhr.

Brände kommen selten vor. Fast alle Gebäude sind bei den verschiedenen in- und ausländischen Feuer-Versicherungs-GeseIIschaften versichert.

Beleuchtung

Die Beleuchtung findet gewöhnlich mit Oel oder Talglichten oder Gas statt. Auf dem Lande gebraucht man das ungereinigte Lein- oder Rüböl, das, besonders wenn es frisch ist, stark qualmt. Die Lampen sind in ihrer Bauart ebenso verschieden als ihr Gebrauch. Die Stearin- und Parafinlichte gehören zu den Luxusartikeln. Von den anderen Leuchtgasen, dem Photogene, Camphine, Solaröl, Petroleum hat das letztere die allgemeinste Verbreitung gefunden. In den Bauernstuben kommen jetzt ziemlich allgemein Hängelampen, worin Petroleum brennt, vor. Die Weber bedienen sich meist auch der Petroleum-Lampen. Die Beleuchtung der Straßen und öffentlichen Platze erfolgt durch Petroleum und Gas. PetroIeum-Beleuchtung haben gegenwärtig alle Hauptortschaften. In Viersen wurde 1859, in Dülken 1861 Gasbeleuchtung eingeführt. In diesen Orten ist vielfach die Beleuchtung mit Gas in dem Innern der Wohnräume, in Fabriken und Läden in Anwendung gekommen.

Lagerstellen

Die Schlafräume sind in der Regel, namentlich auf dem Lande, die schlechtesten des Hauses. Sie sind häufig eng, niedrig, nicht gedielt, wenn zu ebener Erde befindlich oder mit der Wohnstube in Verbindung stehend feucht, unheizbar und dadurch noch schlechter ventilirt. Die Bettstellen, mit und ohne Vorhänge, sind häufig so gross, dass sie fast das ganze Schlafzimmer, das freilich klein genug ist, einnehmen. Auf dem Bretter- oder Lattenboden liegt ein Strohsack oder blosses Stroh, das mit einem Leintuche oder Federbette bedeckt ist. Wohlhabende Familien gebrauchen mit Rosshaaren oder mit Seegras ausgefüllte Matratzen. Die Bedeckung besteht aus Federbetten, aus wollenen oder aus mit Baumwollenwatte gefütterten Decken. Die Bauern schlafen auch im Sommer unter Federbetten. Für den Kopf dienen Federkissen. Die Ueberzüge und Laken sind von Leinen oder Baumwollenstoff.

Beschäftigung

Die Haupt-Beschäftigung ist neben der Fabrik-Industrie der Ackerbau. Die Wirthschaften mittleren Umfanges und mit denselben die kleine Cultur sind vorherrschend. Die Grundstücke liegen selten in unmittelbarem Zusammenhange mit den Wirthschaftsgebäuden, vielmehr zerstreut im Felde, die landwirthschaftlichen Wohn- und Wirthschaftsgebäude grösstentheils in geschlossenen Ortschaften, in Dörfern und Weilern zusammen. Durchschnittlich werden, wo kein Nebengewerbe betrieben wird, auf 50 -55 Morgen 1 Pferd, 7 Milchkühe, 2 Stück Jungvieh als Nachzucht und 6 - 12 Schweine; auf 15 - 20 Morgen 1 Ochse und bei Wirthschaften von 5 - 8 Morgen 1 - 2 Kühe gehalten.

Es gibt wohl kaum eine Gegend, wo die Bodencultur mit so grossem Fleisse gepflegt wird, wie hier. Das in Anwendung kommende Wirthschafts-System ist dem Klima und Boden angepaßt, und auf deren größtmöglichste Ausnutzung berechnet. Der Rheinpreussische landwirthschaftliche Verein, der mehr als 18,000 Mitglieder, 6l Local-Abtheilungen und 205 landwirthschaftliche Casino's zählt, sucht durch Wort und Schrift, durch Wander-Versammlungen und Wanderlehrer, durch landwirthschaftliche Ausstellungen und Prämiirungen von Vieh, von Geräthen und Producten, durch Verloosung von Pferden, von Acker- und Gartengeräthschaften die Landescultur zu heben und zu fördern und hat seit seinem Bestehen auch in hiesiger Gegend auf die Aufklärung unter den Landwirthen und auf den rationellen Betrieb der Landwirthschaft einen nicht geringen Einfluß gehabt. Vortreffliche Maschinen und Geräthe, die die Arbeiten des Landwirthes verbessern und erleichtern, kommen immer mehr in Gebrauch.

Die kleinen Bauern treiben zum größten Theile Weberei als Nebengewerbe, und umgekehrt die Weber einen kleinen Ackerbau. Auf diese Weise hält die hiesige Gegend die rechte Mitte zwischen Industrie und Ackerbau. Beide gehen Hand in Hand und heben und fördern sich gegenseitig; daher der Wohlstand bei geringem Grundbesitze des Einzelnen.

Die hauptsächlichste Beschäftigung und Erwerbsquelle der Einwohner ist die Fabrik-Industrie, die vorzugsweise in Seiden-, Halbseiden-, Baumwollen-, Halbwollen-, und Leinen-Weberei besteht. Diese mannigfaltige Webe-Industrie ist ursprünglich aus der Flachs-Spinnerei und Weberei, die in diesem ehemals ganz ländlichen Bezirke seit Jahrhunderten als Nebenbeschäftigung und als Kunstgewerbe in grosser Ausdehnung und Fertigkeit betrieben worden, hervorgegangen. Die Weber arbeiten in den eigenen, über die ganze Landschaft zerstreut liegenden Wohnungen für die Fabrikorte dieser Gegend. Die mechanische Weberei, die sich auch in der Seidenfabrikation vor und nach mehr Eingang verschafft, findet in geschlossenen Räumen statt. Die Städte Gladbach, Rheydt, Odenkirchen und Grevenbroich sind die Haupt-Fabrikorte für die Baumwollen-Industrie und haben sich vorzugsweise die Bekleidungsstoffe für den allgemeinen Verbrauch zum Gegenstande genommen. Die Fabrikplätze für die Seiden-Industrie sind Crefeld, der Mittelpunct der niederrheinischen Seiden-Industrie, mit 178, Viersen mit 27, Dülken mit 15, Süchteln mit 10, Grefrath mit 4, Oedt mit 2, Kempen mit 6, Lobberich mit 5, Breyell mit 1 Fabrik-Niederlagen. Sie verlegen sich vorwiegend auf die Herstellung von Stücksammet und Sammetbändern, Satin, Taffet, und Taffet- beziehungsweise St. Etienner Bändern, und zwar in allen Abänderungen, was Webeart, Färbung, Appretur etc. anbetrifft. Viersen und Dülken betreiben eine gemischte Fabrikation, indem daselbst ausser der Seiden- und Halbseiden-Weberei auch Baumwollen-, Halbwollen- und Leinen-Manufacturen bestehen. In Kaldenkirchen, Waldniel und Wegberg gibt es Etablissements für Baumwollenzeuge. Im Jahre 1866 wurde in Viersen und 1868 in Dülken die erste Baumwollen-Spinnerei in Betrieb gesetzt. Die Viersener Actien-Flachsspinnerei, die 1866 ihre Thätigkeit begann, hat eine Dampfmaschine von 450 Pferdekraft, durch welche 80 Spinnstühle mit im Ganzen 12,080 Spindeln getrieben werden. In der mechanischen Flachs-Spinnerei und -Zwirnerei zu Dülken sind ca. 2000 Zwirn-Spindeln und 9256 Spindeln zum Spinnen thätig. Beide Fabriken besitzen nebenbei Leinen-Bleichereien. Außerdem sind in beiden Orten noch verschiedene andere Leinen-Zwirnereien im Gange. Die mechanische Flachsspinnerei hat durch ihre vortrefflichen Leistungen die Handspinnerei fast gänzlich verdrängt. Sonst sass in den Bauernstuben an den Winterabenden das weibliche Personal am Spinnrade und manche Spinnerin spann das ganze Jahr hindurch. In Waldniel finden sich zwischen 30 und 40 Leinen-Geschäfte, die Leinen, Gebild, und Damast für den Handel herstellen. Auch in Amern St. Anton, St. Georg und Boisheim gehen viele Leinen-Webstühle.

Die Fabrik-Production beruht hier vorherrschend auf Handarbeit, und ist bisheran namentlich bei der Seidenweberei die Dampfkraft in beschränktem Masse in Anwendung gekommen. In Gladbach dagegen werden die Dampfthürme der Baumwollen-Spinnereien und -Webereien nach mehreren Dutzenden gezählt.

Durch Dampf getriebene Flachsbereitungs=Anstalten, die im Jahre 1861 zuerst vorkommen, sind 8 im Schwalm- und 1 im Nette-Gebiet vorhanden. Auch sind kleine Handbetriebsmaschinen für die Wirthschaft des kleinen Bauers vielfach im Gebrauch.

Auf der Schwalm und ihren Zubächen liegen 50 Mehl- und Oelmühlen, auf der Nette und ihren Zubächen 16, auf der Niers und ihren Zubächen im Niersgebietstheile 15. Außerdem werden im SchwaIm-Gebiet 5, im Nette-Gebiet 9 Wind- und 2 Dampfmühlen gezählt. In Brüggen ist eine Papierfabrik. Bei verschiedenen Mühlen ist die Dampfkraft mit der Wasserkraft in Verbindung gesetzt worden.

Ausser den Webern beschäftigen die Fabriken eine grosse Zahl von männlichen und weiblichen Individuen mit den verschiedensten Arbeiten, mit Haspeln, Spulen, Zwirnen, Ketten-Scheeren, mit Aufputzen, Aufmachen und Verpacken der fertigen Waare etc. Man kann pro Webstuhl 4 Personen als Betriebspersonal annehmen.

Andere, den Fabriken zugehörige Hülfsindustrien sind Färbereien, Druckereien, Bleichereien, Appreturen und dergl. mehr.

Den Webern schliessen sich der Zahl nach die Gewerbetreibenden und Handwerker an. Auf dem Lande werden überall städtische Gewerbe betrieben. Auffallend und über Bedürfniss haben überall zugenommen die Wirthe und Ladenbesitzer. In Breyell besteht ein beträchtlicher Hausirhandel, für welchen jährlich etwa 200 Hausirgewerbescheine ertheilt werden.

In Hinsicht der Arbeitsstunden arbeiten die Fabrikarbeiter im Sommer von 5 Uhr Morgens bis 9 Uhr Abends, im Winter von 6 Uhr Morgens bis 9 Uhr Abends, die Weber von 6 Uhr Morgens bis 8 Uhr Abends, im Winter von 7 bis 9 Uhr. Die Fabrikarbeiter arbeiten häufig noch Ueberstunden, die ihnen besonders vergütet werden. Die Weber weben nicht selten ganze Nächte hindurch, wenn die Arbeit drängt. Der größte Theil der Fabrikbesitzer in Gladbach hat sich kürzlich vereinigt, die Arbeitszeit auf 12 Stunden zu beschränken.

Die hiesige Gegend hat den Vortheil vor anderen nur auf Landwirthschaft angewiesenen voraus, dass ihre Industrie mit ihrer Vielseitigkeit und ihrem regen Verkehrsleben jeder arbeitswilligen Kraft lohnende Beschäftigung verschafft.

Wohlstand

Das Verhältnis der Reichen, Wohlhabenden und Armen gegeneinander ist schwer anzugeben. Es ist nicht zu läugnen, dass auf der einen Seite die Armuth, auf der ändern der Wohlstand und Reichthum zunimmt. Dies tritt am stärksten und grellsten in den Fabrikorten hervor, während diese Verhältnisse auf dem Lande mehr oder weniger unverändert bleiben. Die meisten Einwohner gehören dem Mittelstande an; sehr groß aber ist die Zahl derer, die den Übergang zur verschuldeten und nicht verschuldeten Armuth bilden und meist der arbeitenden Klasse angehören; nicht minder gross ist die Zahl Derjenigen, welche ihre Existenz nur kümmerlich und mühevoll fristen, und auf die Wohlthätigkeit Anderer angewiesen sind.

Der günstige Geschäftsgang, der vorher nie dagewesene Aufschwung der Industrie, die manchfachen industriellen, commerziellen und finanziellen Unternehmungen haben den Fabrikanten und Kaufleuten Wohlhabenheit und Reichthum gebracht. Die grössere, durch Fleiss und durch eine mehr rationelle Bearbeitung dem Boden abgedungene Ertragsfähigkeit, die hohen Preise des Getreides und der sonstigen landwirthschaftlichen Producte haben den Wohlstand des Landbebauers sichtlich gehoben. Beim Pächter ist dies nicht der Fall, indem der Pachtzins der Bauerngüter unverhältnissmässig hoch gestiegen ist. Die Vermögensverhältnisse des Gewerb- und Bürgerstandes haben sich nicht besonders gebessert, was theilweise in der grossen Concurrenz, welche die gewerblichen Monopole beseitigt hat, theilweise in der Genusssucht, in dem Luxus, in den gesteigerten Bedürfnissen des täglichen Lebens überhaupt begründet sein mag. Der gewerbliche Verkehr ist zudem hier von dem dem Wechsel und der Stockung ausgesetzten Fabrikwesen sehr abhängig. Die äusseren Verhältnisse der Durchschnittsmasse der Weber sind trotz des im Ganzen in den letzten 20 Jahren günstigen Geschäftsganges, insbesondere für die Sammetband-Fabrikation, die nie zuvor eine solche Blüthe wie in den Jahren 1856 und 57 erreicht hat, nicht viel besser geworden. Der Grund liegt theils in der hohen Miethe der Wohnungen, theils in der Theuerung der Lebensmittel, theils in dem übergrossen häuslichen Bedarf, hauptsächlich aber darin, dass der Weber nicht vorsorglich ist und nicht zu sparen versteht. Fast nur denjenigen Webern haben die guten Fabrikjahre Ueberschuss gebracht, die nebenbei Ackerschaft treiben, indem sie die nöthigsten Haushaltungs-Bedürfnisse grösstentheils selbst ziehen und von Haus aus sparsamer sind. Bei gewöhnlichem Geschäftsgange sind die Arbeitslöhne so gering, dass die Weber der grossen Zahl nach sich und ihre Familie kaum damit ernähren können. Es ist übrigens nicht zu bestreiten, dass ein sociales Missverhältniss zwischen Arbeit und Capital besteht, indem, während die Kaufleute und Industriellen sich bereichern, die Arbeiter darben und verkommen. Treten vollends Handelscalamitäten ein, wie in den Jahren 1858 bis 1862, so ist damit ein allgemeiner Nothstand vorhanden. Der Winter 1861/62, wo der grösste Theil der Webstühle stillstand, hat davon Zeugniss gegeben. Steht auch der Weber insofern besser als der Tagelöhner, als er durch angestrengtere Arbeit sich einen Mehrverdienst leichter erwerben kann, so steht er dennoch in Beziehung auf Bedarf unter dem gewöhnlichen Handwerkerstande. Beim kleineren Handwerker und Tagelöhner kommt es wesentlich darauf an, ob er Haus und Garten eigenthümlich und so viel Land besitzt, dass er seine Gemüse und Kartoffeln selbst erzielen kann. Die ländlichen Dienstboten sind insofern günstiger gestellt, als sie wie Glieder der Familie gehalten und behandelt werden, die Kost reichlich ist und sie keine weiteren Lebenssorgen zu haben brauchen. Die Löhne derselben haben aber eine solche Steigerung erfahren, dass sie den kleinen Landwirth -drücken. Auch bei den hiesigen Arbeitern haben sich social-demokratische Agitatoren geltend zu machen gesucht. Jedoch haben die Arbeiter, eine verschwindende Minderheit ausgenommen, die Einsicht und Ueberzeugung, dass nur vernünftige Selbsthülfe, Fleiss, Nüchternheit und Sparsamkeit, verbunden und getragen durch Bildung und Sittlichkeit, die Minderung und möglichste Beseitigung der unleugbaren socialen Schäden herbeiführen können.

Von den örtlichen Verhältnissen, die der Verarmung Vorschub leisten, sind es vorzüglich die Einwanderungen von Webergesellen, Fabrikarbeitern, Dienstboten und das sehr zeitige Heirathen bei den Webern. Kaum hat der Weber die Gesellenjähre zurückgelegt, so glaubt er einen eigenen Hausstand einrichten und auf den Webstuhl seine Zukunftshoffnung gründen zu dürfen. Das Meister- und Selbständigwerden ist aber auch keinem Handwerker so leicht als dem Weber; er bedarf dazu nur Webstuhl, Kette und Einschlag. Sobald nun bei diesen Leuten Mangel an Arbeit, Krankheiten und sonstige Unfälle eintreten, so fallen sie der Armenkasse zur Last. Der Weber heirathet gewöhnlich im Gewerbe, und da die Frau die Mädchenjahre auf dem Webstuhle zugebracht hat, fehlt es ihr in der Regel an wirthschaftlichem Sinne, an Kenntnissen in der Haushaltung und an Fertigkeiten in weiblichen Handarbeiten. Haben beide Theile auch keine Krankheiten ererbt, so haben sie doch durch jahrelanges Sitzen auf dem Webstuhle Krankheiten erworben und ihre Constitution geschwächt. Dass das keine Attribute sind zur Erzeugung einer gesunden Nachkommenschaft, ist selbstredend.

Armenhäuser haben die Gemeinden nicht, deshalb müssen sie in gewissen Fällen Wohnungen miethen, oder theilweise Entschädigungen dafür hergeben. Waisenhäuser besitzen sie ebensowenig. In dem ehemaligen Kloster zu Brüggen ist seit einigen Jahren unter der Leitung von geistlichen Schwestern aus dem Franciscanerorden eine Anstalt für verwaiste und verwahrloste Mädchen errichtet, worin auch auswärtige gegen ein Entgelt von 36 Thaiern für's Jahr Aufnahme finden. In der Regel werden die Waisen Zieheltern in Kost und Logis gegeben. Da nun diese durchweg arme Leute sind, und sie überdies ihren Gewinn aus dem geringen Kostgelde ziehen wollen, so sind, abgesehen von der geistigen Pflege, die hygieinischen Verhältnisse dieser Kinder keine günstigen.

Klein-Kinder-Bewahranstalten gibt es nur in Viersen, eine katholische und eine evangelische. Sie werden nur von Kindern bemittelter Eltern besucht. Der Besuch sollte für unbemittelte Kinder frei sein, indem diese Anstalten ja hauptsächlich den Zweck haben, Kindern, deren Eltern durch Arbeit oder Armuth verhindert sind, sich ihnen zu widmen, die Familiensorgfalt zu ersetzen und sie in kindlicher und nütz lieber Weise zu beschäftigen.

Der Jahreslohn eines Ackerknechtes beträgt 40-70 Thlr., der einer Magd 20-40 Thlr.; der Tagelohn im Sommer ohne Beköstigung 12-18 Sgr., mit Beköstigung 6-8 Sgr., im Winter bei Beköstigung 4-6 Sgr. Der Wochenlohn der Fabrikarbeiter (Spinner und Weber) stellt sich für Männer auf 3-5 Thlr., für Weiber auf 2 ½ bis 3 ½ Thlr. Die Handwerker werden pro Stück bezahlt, und können dieselben 10-18 Sgr., Seidenweber bis zu 1 Thlr., Baumwollenweber 10-20 Sgr. täglich verdienen. Die Bestimmung des Lohnes ist nicht von den Webern, wie bei ändern Handwerkern, abhängig, sondern von den Fabrikherren. Der Lohn der Handwerksgesellen schwankt zwischen 1-1½-2 Thlr. wöchentlich bei freier Beköstigung und Wohnung.

Eine Arbeiterfamilie von 5 Personen bedarf jährlich zu ihrer Unterhaltung, wenn man Nahrung, Wohnung, Kleidung, Brennmaterialien, Hausrath, Werkzeuge, Steuern, Unterricht etc. berechnet, in den grösseren Orten 200 bis 250 Thlr., auf dem platten Lande 180 Thlr. Dennoch leben viele Arbeiterfamilien, bei denen nur das Familienhaupt, und zwar 15 Sgr. pro Arbeitstag, d. h. bei 300 Arbeitstagen 150 Thlr. jährlich erwirbt, in auskömmlicher Weise. In den meisten Fällen tragen freilich die Ehefrau und die heranwachsenden Kinder zu dem Erwerbe bei.


Aus: Heimatbuch 1964 des Grenzkreises Kempen-Krefeld, Kempen 1963, S. 58f.

Die Veröffentlichung  an dieser Stelle geschieht mit freundlicher Genehmigung des Kreises Viersen vom 16. September 1999
(Aktenzeichen 41/E 1-47 12 43)

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