Das Geheimnis der alten Mühle
Früher als gewöhnlich war der Abend hereingebrochen. Das Wetter war rauh und regnerisch. Über den grauschwarzen Himmel jagten dunkle Wolkenfetzen, und der Märzwind pfiff um die Häuserecken. Ich zog den Mantel enger zusammen und schritt schneller aus. Zu einer abendlichen Fahrt möchte ich mich einfinden, hatte die recht unbestimmte Einladung eines Bekannten gelautet, zu dem ich auf dem Wege war. Und ins Geheimnisvolle getaucht blieben Ziel und Zweck der Fahrt, als uns der Wagen zu viert ins Dunkel der beginnenden Nacht hinaustrug. Der Bekannte am Steuer verriet nichts. Ich überlegte: "Heute ist der 8. März 1951, ein Donnerstag. Ist denn da irgend etwas Besonderes? Ein Vortrag? Eine Veranstaltung?" Mir fiel nichts ein.
Dipolantenne auf der Hinsbecker Mühle
Aufn. Kreisbildstelle
Ich sah zum Fenster hinaus. Die dunklen Baumstämme huschten gespensterhaft an uns vorbei. Hinter ihnen lag in Dunkel getaucht das weite flache Land, und nur selten blinkten kleine Lichter in der Ferne. Dicht vor uns lag bereits Mülhausen; schon erkannte ich den hohen Klosterbau. Ein kleines Stück ging es durch den Ort, dessen Straßen still und leer waren. Dann lenkte der Fahrer rechts auf Grefrath zu. Vom Scheinwerfer erhellt, blitzte neben uns das Wasser der Niers auf und die hohen Bäume traten für einen Augenblick seltsam groß und deutlich aus der Dunkelheit hervor. "Die Brücke ist also immer noch nicht fertig. In noch nicht einer Minute wurde sie im Kriege zerstört, und nun geht der Verkehr schon sechs Jahre über die schmale, hölzerne Behelfsbrücke." Bei diesen Gedanken schoß der Wagen schon längst wieder auf gerader Straße dahin.
Langsam fuhren wir durch Grefrath. Die hellerleuchteten Schaufenster spiegelten sich auf dem nassen Pflaster. Noch immer nahm die Fahrt kein Ende. Sollte Hinsbeck unser Ziel sein? Unbeirrt zog der Wagen den Windungen der Straße nach bergan. Jetzt war die Höhe erreicht, leichter und schneller rollte er den Abhang hinab. Plötzlich jedoch wurde er abgebremst, schwenkte rechts ab und stand. "Aussteigen!", hieß es, und wir befanden uns in einem engen Hohlweg. Meine Augen konnten sich nur allmählich an die Finsternis gewöhnen, da der Mann vom Steuerrad sofort das Licht des Wagens gelöscht hatte. Vor uns im Hohlweg stand ein geschlossener Lieferwagen, auch völlig abgedunkelt. Am Ende des Weges sah ich schwache Lichtstrahlen und erkannte nach und nach den runden Bau der Hinsbecker Mühle. Während wir auf das alte, morsche Mühlentor zuschritten, drangen Hämmern und ein Stimmengemurmel an unser Ohr. Die Spannung wuchs, es wurde immer geheimnisvoller. Ächzend drehte sich das Tor in den verrosteten Angeln. Wir stiegen eine helle, neue Holztreppe hinauf. Was ging in dem fast vergessenen Mühlenturm vor? Mit jeder Stufe wurde das Stimmengewirr deutlicher. Oben angekommen, sahen wir eine Gruppe Menschen in lebhafter Unterhaltung. Doch meine Aufmerksamkeit galt bald nicht mehr der Gruppe. Ich hörte Musik, und meine Blicke schweiften durch den runden Raum und entdeckten ein Radiogerät. Das aber sah ganz anders aus als gewöhnlich; es war ein großer viereckiger Kasten, und da, wo sonst Skala und Lautsprecher eingebaut sind, schaute mich ein großes Bullauge an aus einem weißlich schimmernden Etwas. Ebenso eigenartig sah auch die Antenne aus, wie zwei große dicke Haarnadeln, die an ihrer offenen Seite miteinander verbunden sind. Eifrig waren zwei Männer damit beschäftigt, Drähte von einer Wand zur anderen zu ziehen, ab und zu einen kurzen Blick auf die Uhr werfend. Der uns als Ingenieur vorgestellte Herr erklärte mir, daß die seltsame Antenne eine Dipolantenne sei und daß außerdem eine Verbindung des Funkgerätes nach draußen bestünde, wo die Mühle unter großen Schwierigkeiten an Stelle ihrer alten Flügel zwei neue bekommen habe, nämlich ebenfalls eine große Dipolantenne. "Wir wollen versuchen", erklärte er, "mit welcher Antenne der Empfang besser ist." Wieder sah er auf seine Uhr, und unsere Unterhaltung wurde abgebrochen. Ich kehrte auf meinen Platz zurück. Das Gemurmel verstummte, und aller Blicke wandten sich dem Funkgerät zu, dessen Bullauge hell aufleuchtete. Hinter der Scheibe wurde eine Fülle von grauen, schwarzen und hellen Streifen sichtbar, die über die Fläche zogen und wieder verschwanden. Dann überschlugen sich die Streifen und fielen durcheinander, und aus dem unruhigen Gewoge wurde ein klares, deutliches Bild. Doch es war kein stehendes Bild, es lebte! Der Mann, den wir sahen, bewegte sich, die Worte, die wir hörten, kamen aus seinem Munde. Er redete in der Sprache unseres Nachbarlandes Holland.
Das Rätsel war gelöst. Der eigentümliche Kasten war ein Fernsehapparat. Wir durften einer Übertragung aus Eindhoven beiwohnen, die in diesem alten Mühlenturm stattfand, weil er auf der "Hinsbecker Schweiz" in der Nähe der Grenze steht, 50 km von der Stadt Eindhoven entfernt. Wie mir gesagt wurde, ist die Lage der alten Mühle für Fernsehversuche günstig, da der Bildfunkempfang mit Ultrakurzwelle durch nichts gestört wird. Eineinhalb Stunden rollte das Programm in bunter Folge vor unseren Augen ab. Als schließlich das Licht hinter der Scheibe erlosch, war ich tief beeindruckt von dem Fortschritt der Technik, die das Wunderwerk eines Fernsehgerätes geschaffen hat. Bald fuhren wir wieder über die dunkle Landstraße nach Kempen, und die fortschrittliche alte MühIe blieb hinter uns zurück und reckte stolz ihre neuen "Dipolflügel" gegen den Himmel. Wir hatten den ersten Fernsehempfang in unserem Kreisgebiet erlebt.
Ingried Roeben
Quelle: Heimatbuch 1952 des Kreises Kempen-Krefeld, Kempen 1951, S. 43f.
Die Veröffentlichung an dieser Stelle geschieht mit freundlicher Genehmigung des
Kreises Viersen vom 16. September 1999
(Aktenzeichen 41/E
1-47 12 43)
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