1000 Jahre Lobberich - Geschichte und ihre Geschichten -
ein Leseheft für Schulen und Familien (1988)
Walter Sanders überlebt den Holocaust
Zum Dunkelsten der 1000-jährigen Geschichte unseres Lobberich gehört, was unseren jüdischen Mitbürgern widerfuhr:
Von 13, die 1938 in Lobberich wohnten, überlebte nur Walter Sanders (geb. 1925), der Sohn des Viehhändlers Sally Sanders (geb. 1888) und seiner Ehefrau Wilhelmine geb. Sanders (1898) die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft.
Ich bat Walter Sanders, einige Fragen zu seinem Leben zu beantworten. Er tat es, vor allem in der Verantwortung für die Jungen und Mädchen, die heute in seiner Heimatstadt wohnen.
Kindheit :
Die Familie des Vaters wohnte ursprünglich auf der Düsseldorfer Straße. Sallys Vater war Abraham. Walters Mutter kam aus Straelen. Sally eröffnete an der Süchtelner Straße (Nr. 20) eine Metzgerei und betrieb Viehhandel, und zwar bis etwa 1937 mit Gewinn.
Großvater Abraham Sanders
Vater Sally Zanders
Mutter Wilhelmine Sanders
Wie lebte die Familie?
Die Eltern besuchten im Regelfall einmal im Jahr, und zwar am Versöhnungstag die Synagoge in Breyell oder Kaldenkirchen.
Vater und Mutter hielten sich daran, kein Schweinefleisch zu essen, hinderten ihre Kinder aber nicht, solches zu tun. Walter ist sicher, daß seine Eltern sich als Lobbericher fühlten, die auch ihre Kinder so erzogen. Vater Sally war als Soldat des 1. Weltkrieges, mit dem Eisernen Kreuz wegen Tapfer keit ausgezeichnet, heimgekehrt. Er betätigte sich nicht parteipolitisch.
Walter: „Meine jüngeren Zwillingsgeschwister Edith und Egon spielten wie ich mit Kindern der Nachbarschaft. Wir kamen wie alle anderen Kinder jüdischer Eltern in die evangelische Schule (Walter 1931/ 32). Dort nahmen wir auch am evangelischen Religionsunterricht teil. Unser Lehrer hieß Niederbröcker. Auch Vater hatte die evangelische Schule in Lobberich besucht. So war es auch bei Mutter in Straelen gewesen".
Schülerinnen und Schüler der Evangelischen Volksschule mit ihren Lehrern (links Lehrer Niederbröcker).
In der Mitte sitzend, 3. von links: Walter Sanders. Stehend von rechts: 1. Bruno Zanders,
2. Egon Sanders, 3. Edith Sanders, 4. llse Zanders, in der Mitte stehend hinter Walter Sanders Helga Zanders.
„Meine Geschwister und ich zogen im St. Martinszug mit, feierten zu Hause Nikolaus und hatten auch einen Weihnachtsbaum.
Die jüdischen Familien am Ort: Rosenthal, Arthur Zanders, Otto Zanders und wir unterhielten keine besonderen Beziehungen. Sie waren in die Bürgerschaft integriert (voll aufgenommen)."
Frage: Waren die Lobbericher Juden wohlhabend?
Antwort: „Meine Eltern lebten in mäßigem Wohlstand. Wir hatten einige Weiden im Wasserturmgelände. Die beiden Familien Arthur und Otto Zanders waren eher arm.
Auch die Breyeller Juden waren nicht wohlhabend. Die weiteste mir bekannte Fahrt meiner Eltern: einmal zum Siebengebirge."
Frage: Spürten Sie vor der Reichskristallnacht vom 9.11.1938 irgendwelche Feindschaft der nichtjüdischen Bevölkerung?
Antwort: Ich erinnere mich, einzelne Male Kinder gehört zu haben:
Töf, töf, töf, doe kömt ene Jud jevahre
töf, töf, met sine Kengerware,
töf, töf, wo wel de Jud wal her?
no Jerusalem, wo al die Jude send."
Ab 1937 hielten sich die Kunden beim Fleischeinkauf zurück. „Nein, der Bruch kam nach dem 9. November 1938." Da wurden Scheiben eingeworfen. SA holte Messer heraus und behauptete, das seien Waffen gewesen. „An jenem Tag traf ein Stein meine Oma Evchen (väterlicherseits) am Kopf. Sie starb".
Sanders berichtet weiter, alle Männer seien ins Gefängnis an der Süchtelner Straße gesperrt und dann für etwa 4 Wochen nach Dachau gebracht worden. Das Geschäft wurde geschlossen. Ab 1940 seien die männlichen Juden im Ort beim Ringofen Thelen dienstverpflichtet worden. Ein Lobbericher Beamter habe dafür gesorgt, daß sein Vater beim Bauern Heythausen habe arbeiten können.
Die Lage sei ganz allgemein für alle Juden demütigend gewesen. Man habe Möbelstücke bei einigen Lobbericher Bauern untergestellt. Im übrigen hätten selbst gutmeinende Bürger jeden Umgang gemieden. „ Man wechselte auf die andere Straßenseite, um nicht grüßen zu müssen ."
Nach der Reichskristallnacht hätten alle Juden im Elternhaus an der Süchtelner Straße Zwangswohnung bezogen. Die Kinder hätten die Schule verlassen müssen.
Anfang 1939 hätten seine Eltern ihre 3 Kinder Walter, Egon und Edith über die holländische Grenze geschafft. Sie seien in einem Heim in Rijkswik* bei Arnheim untergebrachtworden. Er sei damals zum Schweißer ausgebildet worden. Etwa 1940/41 seien die Eltern nach der Besetzung Hollands durch deutsche Truppen einmal für 14 Tage zu Besuch gekommen, und zwar mit deutschem Reisepaß ohne Judenstern. Sie hätten über die bittere Not daheim geklagt. Vater war auch damals noch optimistisch: „Wir kommen zurück, überall wird Brot gebacken", hatte er, bitterlich weinend, seinen Kindern zum Abschied gesagt. „Er hatte immer Gottvertrauen", fügte Walter Sanders hinzu.
Über das Schicksal der daheimgebliebenen Lobbericher Juden habe Walter Sanders durch Frau Lion, Kaldenkirchen, die einzige, die das Grauen überlebt habe, gehört. Die Lobbericher, Zanders, dessen Frau und die beiden Töchter llse und Helga, Otto Zanders, dessen Frau und Sohn Bruno, Sally Sanders und dessen Frau Wilhelmine und das Ehepaar Rosenthal seien auf offenem Lastwagen am 10.12.1941 vom Lobbericher Rathaus nach Krefeld abtransportiert worden. Frau Rosenthal habe am Tage des Abtransportes noch im Krankenhaus gelegen. Dr. Carl habe darauf hingewiesen, daß die Frau nicht transportfähig sei. Man habe mit Drohung geantwortet. (So Dr. Carl nach dem Kriege zu Walter Sanders). Die Frau sei auf dem Transport gestorben.
Der Transport sei nach Riga gegangen. Was dort geschah, ist so grauenhaft, daß ich es hier nicht wiedergebe (Anmerkung Zanders).
Walter Sanders: Bis 1942 sei er mit seinen jüngeren Geschwistern im o.g. Heim geblieben. Dann seien sie ins Sammellager Westerborg, ein Durchgangslager für Auschwitz, gebracht worden. Dort habe er Edith Stein kennengelernt. Sie habe Mut gezeigt. Sanders meinte sich an einen Ausspruch von ihr zu erinnern: „Was können Menschen Menschen antun? " Dann wurden die 3 Sanders nach etwa 1/4 Jahr Aufenthalt in Westerbork, abtransportiert.
Sanders schildert dann erst in Stichworten :
„Kein Kalender, keine Uhr, kein Nichts mehr, 100 Personen in einem Waggon, keine Toilette, kein Wasser, kein Essen, von da ab war Menschsein aus. "Vor Auschwitz kam der Befehl : „Alle Wertsachen raus, sonst erschossen!" Am Lagereingang SS-Wachmannschaften mit Hunden und Peitschen. Kinder, darunter seine beiden Geschwister, Kranke und Greise wurden sofort auf Lastwagen verladen und zu den Gaskammern gebracht. Er sei als Arbeitsfähiger abgesondert worden. Dann folgten Entlausung, Kahlscheren, Anziehen der Sträflingskleider. Jeder erhielt Fußlappen und Holzschuhe .
Dann sei er im Lager 1 in den Block 13 gekommen. Nebenan war eine Experimentierbaracke für Frauen. „Es war grauenhaft", erinnert er sich. Nach kurzer Zeit sei er in das Lager III gekommen . Von dort erfolgte der Einsatz in den Buna-Werken . Er erinnert sich, einmal gesagt zu haben : „Jungens, ich lauf' gegen den Draht" (elektrisch geladen). Die Woche über habe er als Schweißer für eine Schüssel Rübensuppe gearbeitet. Er habe schon mal ein Stück Brot über einen Polen ergattert. Sonntags habe er Zementsäcke geschleppt.
In jeder Woche wurde überprüft, ob er noch arbeitstauglich war. „Links raus!" bedeutete Unfähigkeit und Abtransport ins Lager 1 mit Gaskammer. Er habe damals einen Leistenbruch gehabt und dies nur durch einen Trick vertuschen können.
Als die Russen näherrückten, ging es im „Totenmarsch" nach Nordhausen. Dort mußte Sanders in einem Stollen an V1 und V2-Geschossen schweißen. „Da hatte ich den Willen, du mußt hier rauskommen." Dort starben Tausende.
„Als die Front näherrückte, wollte man uns in dem Stollen in die Luft sprengen." Das Vorhaben mißlang. Dann wurden die Häftlinge auf offenen Waggons hin- und hergefahren. Man lud sie an einem Waldrand ab, wo er mit einem Belgier geflohen sei. Russische Kradfahrer erlösten sie aus Angst und Furcht.
Sanders schloß: „Ich war ein Muselmann und wog 70 Pfund." Dann krempelte er einen Ärmel hoch. Auf dem Unterarm las ich die Nummer: 175 530 .
ln einem abschließenden Gespräch stellte Sanders noch fest, von 1500 aus Westerbork seien seines Wissens drei herausgekommen. Er staune noch heute, mit welcher „deutschen Gründlichkeit" alles abgewickelt worden sei. Er könne die Sieger des 2. Weltkrieges nicht verstehen, daß sie nichts unternommen hätten, obschon sie von Lagern wie Auschwitz usw. gewußt hätten.
Er sei dann 1945 nach Holland transportiert worden, wo er aber nicht habe Fuß fassen können. Seit 1955 wohnt er wieder in Lobberich.
Frage: Wie verhielten sich die Lobbericher nach ihrer Heimkehr?
Antwort: "Ausnahmslos freundlich." Er habe manchmal das Gefühl, daß die Vergangenheit verdrängt werde. Sehr habe er sich über einige Lobbericher gefreut, die ihm Möbelstücke und andere Wertsachen gerne zurückgegeben hätten.
„Ich empfinde heute keinen Haß. Ich weiß auch, daß die Lobbericher während des Krieges viele andere Sorgen hatten", stellte er abschließend fest.
Übrigens ist Walter Sanders, heute** 63 Jahre alt, in der Nachbarschaft aktiv tätig .
Sein größter Wunsch, Gleiches möge nie mehr geschehen.
22) „koscher schlachten", d.h. „rein schlachten" im Sinne des jüdischen Gesetzes, so daß man das Fleisch essen durfte.
Das Gesetz schreibt auch vor, kein Schweinefleisch zu genießen.
* Ein "Rijkswik" gibt es nicht. Zwischen Utrecht, Nijmegen und Arheim liegt die Gemeinde Rijswijk am Amsterdam-Rhein-Kanal
** Das Buch erschien 1988 anlässllich der 1000-Jahr-Feier Lobberichs.
Edith Silber, geb. Zanders: "Am Ende eines neuen Lebens"
Eine der letzten noch lebenden Auswanderinnen in Buenos Aires
Nachtrag:
am 5. Dezember 2022 wurden vor dem Wohnhaus Süchtelner Straße 20 " Stolpersteine" verlegt
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