1000 Jahre Lobberich

Geschichte und ihre Geschichten -
ein Leseheft für Schulen und Familien


Anspruch und Wirklichkeit: "Das Dritte Reich"

Dann überraschte am 30. Januar 1933 Reichspräsident Paul Hindenburg die Menschen in unserem Land, als er Adolf Hitler mit der Bildung einer neuen Regierung beauftragte. Die Überraschung war auch in Lobberich perfekt: Am 22.1 .33 hatte die katholische Jugend ihr 25jähriges Bestehen gefeiert. Am Ende ihres „Sturmjahres" blickten die Jungen in blauen und grauen Hemden voraus auf das Jahr christlicher Tat, und genau einen Tag vor der nationalsozialistischen Herrschaft fand im Gebäude der Firma Niedieck an der Breyller Straße die Schlüsselübergabe für ein Lager des Freiwilligen Arbeitsdienstes statt.

In den Ansprachen findet sich kein Hinweis darauf, daß Ungeheuerliches im Anmarsch war. Es fing dann auch scheinbar versöhnlich an: Waren da nicht nur 3 Nationalsozialisten in der neuen Regierung? Sicherte man nicht im Juli 1933 vertraglich der katholischen Kirche Religionsunterricht in den Schulen und ungestörte Jugendarbeit zu? Hatten nicht auch die Lobbericher in der Mehrzahl der Wahlberechtigten bei der Wahl zum Gemeindeparlament am 12.3.1933 ihren ersten Schock überwunden und mit 1508 Stimmen 8 Nationalsozialisten in den Gemeinderat gewählt und der bis dahin immer eindeutig stärksten Partei, dem Zentrum, das auf 1266 Stimmen und nur 6 Abgeordnete kam, Vertrauen entzogen? Wollten nicht die Ratsmitglieder ihre Hoff­ nung auf Adolf Hitler zum Ausdruck bringen, als ihm in der ersten Sitzung nach ihrer Wahl die Ehrenbürgerschaft von Lobberich antrugen? Wir haben eine Urkunde über die Pflanzung einer Adolf-Hitler-Eiche vom 1 . Mai 1933. Sie stand bis 1946 dort, wo Breyeller- und Hoch­ straße zusammenkommen. Der Vertrauensvorschuß, den viele Lobbericher in der verbreiteten Not Hitler entgegenbrachten, war überraschend groß, und schon bald sahen sie, „wohin der Karren lief " : Es kam zu ersten Übergriffen im Arbeitsdienstlager an der Breyeller Straße. Am 1. Juli durchsuchten auf Anweisung der Gestapo (Geheime Staatspolizei) örtliche Polizeibeamte die Räume der Katholischen Jugend und beschlagnahmten, wie es hieß, „Flug­ blätter, Reklameschriften und Vorstandsakten und 15 RM" außerdem 1 Wimpel, 1 Banner, 2 Pfeifen und 1 Trommel. Bis zum Juli 1933 hatten sich alle Parteien selber aufgelöst oder waren dazu gezwungen worden. Mein Vater verwaltete damals die Kasse des Lobbericher Christlichen Textilverbandes. Er hatte zeitig Lunte gerochen und für das Beitragsgeld Fleisch eingekauft, das an die Mitglieder gegangen war, so verfuhr man auch mit den Beständen einer Kohlenkasse, die für Mitglieder eingerichtet worden war, damit Winterkohlen billiger eingekauft werden konnten. Alle Gewerkschaften wurden von der sogenannten deutschen Arbeitsfront übernommen. So gab es im Sommer auch nur noch die eine deutsche Partei : NSDAP (Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei).

Ich erinnere mich an die Aufzüge der uniformierten SA (Sturmabteilung) und SS (Saalschutz). Wenn ihre Fahne mit dem Hakenkreuz vorbeigetragen wurde, mußte jeder die rechte Hand zum Gruß hochheben. Betrat man eine Amtsstube, so hatte man mit „Heil Hitler " zu grüßen. Lehrer begannen ihren Unterricht mit diesem „Deutschen Gruß". Der Reichsarbeitsdienst ist in das Verwaltungsgebäude der früheren Firma Niedieck eingezogen (1933). Jeder junge Deutsche (Männer und Frauen) diente 1/2 Jahr im RAD. Danach folgte für die Männer der 2jährige Wehrdienst.

Hier ein Beispiel für „Umstellungsschwierigkeiten" beim Grüßen:
Beim Ortsgruppen leiter der NSDAP ging eine Beschwerde über Kaplan Fritzinger ein : „Herr Kaplan Fritzinger'', schrieb ein Lehrer, „der hier an der Schule den Katechismus erteilt, hat den hier eingeführten Hitlergruß abgeändert, indem die Kinder beim Handheben die Worte „Gelobt sei Jesus Christus" sagen müssen. Ich und mit mir die Kinder und deren Eltern ersehen darin eine Verächtlichmachung des deutschen Grußes." Weiterhin erlaubte sich Herr Kaplan Fritzinger zu den Mädchen der Oberklasse zu sagen, nachdem dieselben sich äußerten, daß die Eltern die große Anzahl Hefte für seine Arbeiten nicht beschaffen könnten, „ Für den Staat könnt ihr immer geben ohne Murren und ruft noch Heil Hitler." Den Sinn dieser Worte versteht man ja. Ein Volk, das durch die größten Opfer am Aufstieg arbeitet, wird verlacht und verächtlich gemacht." In einem 2. Schreiben des Lehrers heißt es: „Zur Ergänzung meines Schreibens vom 28.10.33 möchte ich noch folgendes mitteilen. Nachdem, wie berichtet, Herr Kaplan Fritzinger den deutschen Gruß in der Schule abgeändert hat, habe ich nach Klärung dieser Angelegenheit den Kindern nachdrücklich gesagt, daß der deutsche Gruß bei erho­ benem Arm nur „ Heil Hitler" heißt. Herr Kaplan Fritzinger betrat am Freitag, dem 3. November 1933, die Klasse. Die Kinder grüßten ordnungsgemäß mit dem deutschen Gruß. Herr Kaplan Fritzinger verlangte erneut bei erhobener Hand die Worte: „Gelobt sei Jesus Christus". Die Kinder sagten dem Herren, daß ich ihnen gesagt hätte, beim Heben der Hand, die Worte „ Heil Hitler" zu sprechen. Eine Abänderung des deutschen Grußes sei in der Schule nicht zulässig. Darauf äußerte sich Kaplan Fritzinger: „Seid ihr Christen oder Heiden? Ist Hitler Gott oder Jesus Christus? Ihr schreibt für die nächste Stunde 10 mal „Gelobt sei Jesus Christus" Da die Kinder den Grund dieser Strafe nicht erkannten und sich äußerten, diese Arbeit nicht zu machen, mußten sie nachmittags zum Arrest antreten."
Was kann man den beiden Schreiben des Lehrers entnehmen? Der Kaplan blieb bei dem überkommenen Segensgruß, der am Anfang des Tagewerks in den Schulen immer und zu Beginn aller Religionsstunden gesprochen wurde, eingedenk der Spruchweisheit „Mit Gott fang an, mit Gott hör auf, das ist der schönste Lebenslauf ". So war es für ihn Ausdruck von Heidentum, wenn an die Stelle des kurzen Gotteslobes der Gruß „ Heil · Hitler" trat. Man darf davon ausgehen, daß er das als eine bewußte Umkehrung, als Ausdruck einer neuen Weltanschauung sah. Der Lehrer dagegen sah in der Handlung des Kaplans eine Verfälschung des deutschen Grußes mit dem Ziel, bei den Kindern den Gruß und damit Adolf Hitler am Anfang des Unterrichts der Verachtung preiszugeben. Der offensicht lich überzeugte Nationalsozialist sah die Äußerung des Kaplans vor den Mädchen der Oberklasse darüberhinaus als eine Verleumdung des deutschen Volkes an. Dabei fällt auf, daß der Kaplan vom Staat spricht, während der Lehrer Staat und Volk gleichsetzt. Ehe man über den Vorgang urteilt, muß man wissen, daß Ort der Handlung eine „katholische Volksschule" in Lobberich war, die durch das Konkordat im Juli 1933 (Abkommen des Deutschen Reiches mit der katholischen Kirche) geschützt war . Im Hintergrund wird die blinde Gefolgschaft des Lehrers zu Adolf Hitler erkennbar, eine Haltung die zum Führerstaat führte, in dem nur Befehlen und Gehorchen gelten sollten.
Wie äußerte sich Hitler zur Jugenderziehung?
"Eine gewalttätige, herrische, unerschrockene, grausame Jugend will ich, Jugend muß das alles sein. Schmerzen muß sie ertragen. Es darf nichts Schwaches und Zärtliches an ihr sein. Das freie, herrliche Raubtier muß erst wieder aus ihren Augen blitzen. Stark und schön will ich meine Jugend... Ich will eine athletische Jugend. Das ist das Erste und Wichtigste"
... In derselben Rede heißt es dann weiter : „Sie sollen mir (die Jungen und Mädchen) in den schwierigsten Proben die Todesfurcht besiegen lernen. Das ist die Stufe der heroischen Jugend. Aus ihr wächst die Stufe des Freien, des Menschen, der Maß und Mitte der Welt ist, des schaffenden Menschen, des Gottmenschen."

Aus diesem Text geht hervor, daß Hitler die Jugend für sich und seine Ziele zur Verfü­ gung haben wollte. Da war kein Platz für Gottes erstes Gebot: „Ich bin der Herr dein Gott. Du sollst keine fremden Götter neben mir haben." Hitlers "heroische Jugend" sollte in ihrer höchsten Entwicklungsstufe das Gott­ menschentum errreichen. War das keine Botschaft für junge Menschen, die von den Fesseln so mancher Bindung frei sein wollten? Stand da nicht im Hintergrund auch das Vorbild des tapferen Frontkämpfers vom 1. Weltkrieg, der scheinbar keine Todesgefahr gekannt hatte? Und so marschierten auch in Lobberich nach 1933 viele Jungen hinter dem Banner des Jungvolkes in schwarzer Hose und Braunhemd, das schwarze Schultertuch am Hals geknotet, mit Koppel- und Schulterriemen im Fähnlein Blücher oder in der Hitlerjugend (über 14 Jahre). Auch die Mädchen folgten in Gruppen hinter dem Wimpel. Ihre Tracht: weiße Blusen und schwarze Röcke. Freilich gab es bis 1936 noch die Konkurrenz der katholischen Jugend. Der Jahrgang 1926 wurde dann ganz zum Dienst im Jungvolk und „Bund Deutscher Mädel" verpflichtet. Ich erinnere mich, 1937 dazugestoßen zu sein. Gleich am Anfang hatte ich einen großen Erfolg : Bei den sogenannten Reichsjugend­ wettkämpfen im Dreikampf (Ballweitwurf, 60 m - Lauf und Weitsprung) wurde ich Ortsbester. Ich erhielt ein Abzeichen, das ich sehr stolz auf meinem Rock trug, und zwar genau an der Stelle, wo die Frontkämpfer des 1. Weltkrieges das Eiserne Kreuz 1. Klasse trugen. Von diesem sportlichen Erfolg abgesehen, der sich übrigens einige Jahre wiederholte, interessierte mich der „Dienst" einmal pro Woche nachmittags überhaupt nicht, denn es wurde marschiert und vormilitärischer Drill geübt. Ich fehlte deshalb häufiger. Ich kann mich auch nicht erinnern, daß mir das Einüben von Liedern bei den Winterheimabenden Freude gemacht hätte. Wesentlich aufregender war für mich, daß ich in die Fußballmannschaft des Fähnleins kam. Zu Führerehren kam ich nie (Gruppen-, Zug-, Fähnlein-, Stamm-, Bannführer). Ich kann mir gut vorstellen, daß nicht immer die Überzeugung der Motor bei den "Vorgesetzten" war, sondern der Ehrgeiz, auf der Treppenleiter nach oben voranzukommen. Unter den mir bekannten Führern am Ort dürfte keiner älter als 20 Jahre gewesen sein. Auf die Frage, ob wir uns wie die Jugend des Führers (s.o.) fühlten,würden mindestens 80 % mit „nein" geantwortet haben. Wir waren im allgemeinen an Leistungen im Sport interessiert, weil das in der Rangordnung unter Kameraden sehr wichtig war. Das zeigt sich auch darin, daß beim Übergang in die HJ Spezialgruppen, wie Flieger-HJ, Marine­ HJ, Motor-HJ sehr gefragt waren. Da ging es um Technik, während Drill ganz am Rande stand. Unter den NS-Formationen galt die SA als Vortrupp.

Junge Fanfarenbläser der Deutschen Arbeitsfront.

Von Silvester 1934 ist ein Vorgang überliefert, der sich in Lobberich im Strandlokal Ludwigs am Breyeller See zutrug: Über 100 Personen feierten. Es wurde getanzt. Der Reisende Levy aus Breyell,ein Jude,tanzte mit einem Mädchen aus Lobberich. Gegen 23 Uhr war ein Breyeller SA-Mann darüber so empört, daß er Levy vor allen Gästen ohrfeigte und dazu bemerkte, daß Juden nicht mit deutschen Mädchen tanzen dürften. Er forderte Levy auf, das Lokal zu verlassen. Ohne sich zu wehren, ging Levy hinaus. Nun forderte der erboste Wirt den SA-Mann auf, den Raum zu verlassen. Dieser weigerte sich. Da wandte sich der Wirt an den ihm bekannten Schupo (Schutzpolizist Hölter) mit der Bitte um Hilfe. Nachdem dieser sich ausgewiesen hatte, verwies er den SA-Mann des Hauses. Darauf drängten 6 SA-Leute den Polizisten in eine Ecke, wobei sie deutlich machten, daß sie ihn zusammenschlagen wollten. Da zog dieser seine Dienstpistole, schoß zweimal und traf einen SA-Mann im Bauch.
Was geschah dann? Nicht die Polizei wurde benachrichtigt, sondern ein SA-Standartenführer in Krefeld. Er machte sich mit Pkw auf den Weg und erschien bald mit dem Lobbericher Ortsgruppenleiter und SA-Männern im Strandlokal. Der Polizist wurde zur örtlichen Polizeiwache ins Rathaus gebracht, wo er die ersten Prügel bezog, dann ging's nach Krefeld, unterwegs neue Prügel. Im Krefelder NSDAP-Lokal „Heinzelmännchen " gab es erneut Prügel, dann schaffte man den Schupo zum 2 . Krefelder Polizeirevier, wo er im Beisein von 2 Polizeihauptwachtmeistern erneut verprügelt und ins Polizeigefängnis geschafft wurde. Der Beamte war schwerverletzt und ohne Bewußtsein. Später brachte man ihn in die Krankenabteilung der Landespolizei. Eine Untersuchung des Regierungspräsidenten in Düsseldorf endete Monate später mit Einstellung des Verfahrens gegen die SA.

Am 1 .1.35 wurden der Breyeller Jude Walter Levy und sein Bruder Alfred für 8 Tage in „Schutzhaft zu ihrer eigenen Sicherheit" genommen.

Die SA-Leute nahmen sich also einfach heraus, Leute, ja Beamte, zu verprügeln und in Gewahrsam zu bringen. Das Schlimmste: die anmaßenden Übergriffe wurden nicht einmal gerichtlich bestraft. Während der ganzen Herrschaft der Nationalsozialisten bestand neben der normalen Verwaltung, von der örtlichen bis hinauf zum Regierungspräsidium in Düsseldorf, noch die Einrichtung der Geheimen Staatspolizei (Gestapo), die als Instrument der Machthaber mehr oder weniger in das Leben der Einzelnen und Gruppen eingriff. Sie erteilte als Organ des Regierungspräsidenten auch Anweisungen an die örtlichen Ordnungsämter und an die Ortspolizei. Bei solcher Überwachung hatte jeder Angst, zuviel zu sagen. Zellen­ und Blockwarte der Partei überwachten sogar die Nachbarschaften und Familien.


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Geschichte(n) - auch aus anderen Quellen.