ihre aktuelle Wochenzeitung
nicht nur für Lobberich!

Donnerstag, 7. November 2002


Reichskristallnacht

In der Nacht vom 9. auf den 10. November wurden auch im Grenzland jüdische Geschäfte zerstört

Von Günter Nonninger

Reichskristallnacht, 9./10. November 1938 - auch an diesem Morgen musste ich wie in jeder Woche einmal zur Drogisten-Fachschule in Krefeld, die im Gebäude der Kaufmannsschule der Industrie- und Handelskammer am Nordwall untergebracht war. Dort wurde, wie ich später oft feststellen konnte, ein erstklassiger, Fachunterricht in Chemie, Botanik, Kräuterkunde und Alltagschemie usw. vermittelt, durch einen älteren, sehr sachkundigen Herrn namens Dr. Dr. Dr. Arian Danile Schenk. Dieser führte in Krefeld in der Luisenstraße sein berühmtes chemisches Labor für Allgemeine- und Lebensmittelchemie. Er gehörte zu den Chemikern des 1. Weltkrieges, die in Leuna-Merseburg die Stickstoffsynthese entwickelten und damit dem Kaiserreich ermöglichten, die für den Krieg benötigten Pulver- und Sprengstoffmengen herzustellen.

Wie üblich musste ich den Bus der Krefelder Verkehrs-AG - große Büssing-Motorwagen mit Anhänger -benutzen, der in der für heute sagenhaften Zeit von knapp 40 Minuten Lobberich mit Krefeld verband.

6.45 Uhr: Die Bushaltestelle lag nur wenige Meter von der Haustür Markt 20 - zwischen dicken alten Kastanienbäumen, die damals den Markt zierten - entfernt. Als erfahrener Fahrschüler wurde trotz ständigem mütterlichen Ermahnen, erst in der letzten Sekunde aufgestanden, wenn der Bus nach Breyell fuhr. Raus aus dem Bett, Katzenwäsche und "holterdiepolter" ging es ab. Die Zeitungen "Rhein und Maas" und "Düsseldorfer Nachrichten" waren noch nicht da, und Radio wurde bei uns morgens nie gehört; wir lebten ja auf dem Lande, da war man eben etwas langsamer. Deshalb stürzte ich völlig unvorbereitet in die Ereignisse des Tages.

6.50 Uhr: Kaum im Bus, wurde ich mit Fragen überhäuft. "Hast Du schon gehört, bei Stern (heute Brünen, Hochstraße) ist das große Schaufenster eingeworfen worden und in Breyell soll Gott weiß was passiert sein! Öt jeht tänge die Judde!" Neugierig sahen wir aus dem Bus zur Metzgerei Sanders auf der Süchtelner Straße. Dort hatte der "Volkszorn" nur ein kleines Loch in die linke untere Ecke der Schaufensterscheibe geschlagen. Sonst war alles still in Lobberich und blieb es auch während des ganzen Tages.

Aufgeregt und voll Spannung erreichten wir um 7 Uhr Süchteln, wo einiges passiert sein musste, denn jetzt sahen wir SA-Leute mit grimmigen Gesichtern und herabgezogenen Sturmriemen ihrer braunen Parteimützen. Vom Bus aus konnten wir nichts erkennen, aber am Weberbrunnen liefen die Menschen aufgeregt umher. Wie ich später von meiner Leuther Nachbarin Frau Hugenberg, geb. Nelissen, die damals (1938) sechs Jahre alt war, erfuhr, war sie zu Besuch in Süchteln und wollte mit ihren Verwandten mit der Straßenbahn nach Viersen fahren. Sie gerieten dabei am Weberbrunnen in die Plünderung des Hauses, Geschäftes und der Wohnung Leverenz. Zitat: "SA- Leute warfen aus dem ersten Stock ein Klavier auf die Straße. Das Geräusch des Aufschlagens habe ich bis heute nicht vergessen!"

Um 7.15 Uhr erreichte der Bus Vorst. Auch hier viele Menschen und SA-Leute, die nervös brüllten. Neben dem Rathaus war das Haus der damaligen Viehhändler-Familie Levi, die sich für uns ? wie wir schon öfter festgestellt hatten - durch besonders hübsche Töchter auszeichnete, die mit uns als Fahrschülerinnen zum Lyzeum nach Krefeld fuhren. An diesem Morgen sah es im und am Haus Levi wüst aus. Die Fenster und Türen zerschlagen, die Gardinen zerrissen u.s.w.. Die Mädchen sahen wir von diesem Zeitpunkt ab nie wieder.

7.30 Uhr: Der Bus erreicht St. Tönis. Dort brannte die Synagoge, was schon von weitem zu sehen war. Auch hier bestimmten SA und aufgeregte Menschen das Bild.

7.40 Uhr: Ankunft in Krefeld Westbahnhof. Hier war alles ruhig, aber der Bus wurde zum Hauptbahnhof - statt wie üblich über die Wälle zu fahren - umgeleitet. Dort angekommen, wurden wir ziemlich unsanft zum Aussteigen aufgefordert und die Busse fuhren sofort weg. So landeten wir mitten in dem fürchterlichen Geschehen der nächsten drei Stunden.

7.45 Uhr: Normalerweise gingen wir vom Hotel KrefeIder Hof (heute Karstadt) zur Schule, doch von der Haltestelle am Hauptbahnhof wurden wir fast magisch von den Menschenmassen angezogen und mit in die untere Neußer Straße gespült. Überall war SA mit herabgezogenen Sturmmützen und mit dem Abzeichen der SA-Ausbildungskaserne Fichtenhain. So gerieten wir in das Chaos der Plünderungen von Geschäften, aus denen ein grölender Pöbel körbeweise Sachen holte, während SA-Leute Möbel, Radioapparate, Wäsche und Eingemachtes mit großem Vergnügen aus den Fenstern warfen.

8.15 Uhr: Es war eine aufgeheizte und aggressive Atmosphäre und wir wollten weg zur Schule zur Königstraße, um die Hochstraße zu umgehen, denn dort herrschten ebenfalls einige Turbulenzen. Schon nach wenigen hundert Metern stießen wir auf Polizeimannschaftswagen, Feuerwehrfahrzeuge, starken Qualm- und Brandgeruch sowie Schlauchleitungen, denen wir neugierig folgten und standen plötzlich vor der brennenden großen Synagoge. Sie war umstellt von Feuerwehrleuten mit Schläuchen aus denen kein Tropfen Wasser floss. Neben jeder dritten Spritze standen drei bis vier SA-Leute, die jeden Löschversuch sofort zu verhindern hatten, es sei denn, das Wasser war auf die Nachbarhäuser zu deren Schütz gerichtet. Nach späteren Informationen hatten sie Anweisung, bei einem Löschversuch sofort die Schläuche zu trennen.

Wir erreichten aufgewühlt die Gewerbeschule und unsere Fachräume der Drogistenklasse. Im Klassenraum ging der bereits vorher erwähnter Fachlehrer Dr. Schenk aufgeregt hin und her, so dass wir uns besonders leise auf unsere Plätze begaben. Aber auf einmal legte er mit Donnerstimme los: "Was jetzt da draußen geschieht und Ihr gerade gesehen und erlebt habt, ist ein großes Verbrechen, eines der großen Verbrechen der Menschheit. Eine Schweinerei ohnegleichen - unentschuldbar, unverzeihbar - da versagt jedes menschliche Verständnis für das, was die Braunen da machen. Das wird auf Euch und alle herabkommen. Was die Braunen da anstellen, ruiniert den Namen Deutschlands in alle Ewigkeit. Diese Verbrecher plündern, rauben, verprügeln ehrenhafte deutsche Menschen, nur weil sie Juden sind. Sie zerstören ihre und unsere Kultur Das wird für alle unendliche Folgen haben! Ihr werdet es erleben!"

9.30 Uhr: Einer unserer Mitschüler aus Neukirchen-Vluyn gefiel sich darin, stets in HJ-Uniform samt, Führerschnur zum Unterricht zu erscheinen. Ihn fuhr Dr. Schenk an: "Mach, dass Du raus kommst, ich will Dich in diesem braunen Lappen hier nie wieder sehen, raus, raus!"

10 Uhr: In der Schule eisige Stille. Wir waren fassungslos und aufgeregt. Draußen war Ruhe eingezogen, die Polizei sperrte Straßen. Wir machten uns auf den Weg, dass wir den nächsten Bus um 11.15 Uhr zurück nach Lobberich erreichten.

11.45 Uhr: Auf der Fahrt in Richtung Lobberich war unterwegs überall Ruhe. Während der Fahrt grölte und prahlte eine andere Gruppe: "Die Juden haben es drauf gekriegt, haha!" Die meisten Fahrgäste waren bedrückt und sahen zum Fenster hinaus.

12 Uhr. Zu Hause in Lobberich saßen meine Eltern mit einigen gleichgesinnten Freunden und Bekannten und diskutierten erregt die Lage. Meine Mutter und eine andere Frau weinten und hielten den Rosenkranz in den Händen. An diesem Morgen muss noch etwas gegen die katholische Kirche in Lobberich vorgefallen sein. Was, ist mir unbekannt geblieben. Die Meinung aller war, wer so mit den Juden und der Kirche umgehe, könne nur Unheil über uns alle bringen. Wir Jugendlichen waren aufgeregt und merkten: "Die Welt, unsere Welt, war eine andere geworden!"


Günter Nonninger und weitere Berichte von ihm

Weitere Zeitungsartikel: Archiv


Bestellen Sie jetzt Ihre online!

Die Grenzland-Nachrichten legen ganz besonderen Wert auf die lokale Berichterstattung.
Viele Sportinteressierte schätzen die ausführliche Berichterstattung aus den unteren Ligen und dem Jugendbereich.


Links innerhalb Lobberich.de:

Gästebuch

home

Kontakt

virtuelle Postkarten


Impressum - Datenschutzerklärung