Johannes Hessen
Philosoph und Priester
aus: Geistige Kämpfe der Zeit im Spiegel eines Lebens
Erstes Kapitel: Geistiges Werden
Dort, wo der Rhein aus dem von burgengekrönten Bergen umsäumten Rheintal heraustritt und in ruhigem Lauf dem mütterlichen Meere zustrebt, nimmt er den Namen "Niederrhein" an. Rechts und links von seinen Ufern dehnt sich eine fruchtbare Landschaft. Diese niederrheinische Landschaft besitzt nicht die Pracht und Schönheit der ober- und mittelrheinischen, aber es fehlen ihr nicht die mehr verborgenen Reize. Sie weist manchen lieblichen Höhenzug auf, der das jeweilige Landschaftsbild harmonisch abschließt. Auch ist sie vielfach durchzogen von kleinen Flüssen und Bächen, die sich hier und da zu kleineren oder größeren Seen erweitern.
Überall da, wo Wasser ist, findet sich auch das für die niederrheinische Landschaft so charakteristische Bruch.
Ein solches Bruch findet sich auch in der Ortschaft, die meine Heimat ist. Ein Bächlein schlängelt sich durch sie, das in der Nähe einer Mühle mit seinen aufgestauten Wassern einen hübschen Weiher bildete, auf dessen Eisfläche wir im Winter mit glühendem Eifer Eissport trieben. In diesem Weiher spiegelte sich unset Hof, woran ich als Junge viel Freude hatte und worauf ich nicht wenig stolz war. Mühle und Weiher sind längst verschwunden, aber das Bächlein bildet auch heute noch die nördliche Grenze unseres Hofgutes. Es schließt die Wiesen ab und dient dem auf ihnen weidenden Vieh heute wie damals als Tränke.
In diesen Wiesen lag der Bauernhof, auf dem unser Geschlecht viele Generationen hindurch gelebt und gewirkt hat.
Als die Gebäude immer baufälliger wurden und sich auch als zu eng und klein erwiesen, faßte mein Vater den kühnen Entschluß, einen neuen, großen Hof zu bauen. Aber nun nicht wieder unten in den Wiesen, sondern auf einem höher gelegenen Terrain an der Straße, die von Lobberich nach Dülken führt. (Beide Orte sind je 4 bis 5 km entfernt).
Mit großer Energie führte mein Vater seinen Entschluß aus und schuf einen Hof in fränkischer Bauweise, der zu den schönsten Höfen am Niederrhein zählt. Er liegt ganz frei - der nächste Hof ist etwa 5 Minuten entfernt -, in Grün gebettet, überall von Obstbäumen umgeben. Das zweistöckige Wohnhaus ist nach Süden orientiert und hat infolgedessen viel Licht und Sonne.
Bald nach Vollendung des Hofes heiratete mein Vater. Die erste Wiege, die im neuen Haus stand, war meine Wiege. Am Fest Kreuzerhöhung 14. September) des Jahres 1889 wurde ich in der zur Gemeinde Lobberich gehörenden Ortschaft Dyck geboren. Hier habe ich in Feld und Wiese, zwischen Kühen und Kälbern, Pferden und Fohlen meine Kindheit verlebt. Ich war nicht allein. Fast jedes Jahr sah eine neue Wiege, so daß wir schließlich zu sieben Geschwistern waren.
Der Vater hatte eine sehr strenge Art. Leider war er nie gesund. (Seine beiden Geschwister waren schon in früher Kindheit gestorben). Was ihm fehlte, Gesundheit und Frohsinn, besaß meine Mutter in reichem Maße. Auch sie stammte von einem Bauernhof. Er lag in der an Dyck angrenzenden Ortschaft Dornbusch, die zur Gemeinde Süchtein gehörte. Dort hatte sie die höhere Schule besucht und sich u. a. jene schöne Handschrift angeeignet --- eine der schönsten Frauenhandschriften, die mir im Leben begegnet sind -, die ihr im späteren Leben so sehr zustatten kommen sollte. Mit ihrem frohen Gemüt trug sie viel Sonne in unsere Jugend hinein. Jedes Jahr bestellte sie den Nikolaus, der uns mit dem schönsten Spielzeug beglückte. In bischöflichem Ornat erschien er am Vorabend seines Festes (6. Dezember), begleitet von seinem Knecht Ruprecht. Es war ein feierlicher Augenblick, wenn er unser Wohnzimmer betrat. Nicht ohne zittern knieten wir vor ihm, in einer Reihe, deren Flügelmann ich als Ältester war. Dann kam die ernste Frage: "Sind hier auch Kinder, die sich beten können?" (Das war allerdings nicht das Deutsch eines Himmelsmannes, sondern eines typischen Niederrheiners, der gewohnt war, in seinem Dialekt das Zeitwort "beten" als Reflexivum zu behandeln!) Nachdem wir gebetet und gelegentlich auch eine kleine Rüge erhalten hatten, beschenkte uns der "heilige Mann" mit Nüssen und Äpfeln. Aber das war nur ein kleiner Vorgeschmack der großen Bescherung, die in der Nacht erfolgte und die wir in der Morgenfrühe auf dem großen Tisch des Wohnzimmers, auf dem wir am Abend vorher unsere Teller aufgestellt hatten, vorfanden. Diese Bescherung fiel immer sehr reichlich aus -- dank der großen Liebe unserer Mutter zu uns -, so daß wir im Laufe der Jahre so viele und schöne Spielsachen hatten, daß wir gar nicht das Bedürfnis empfanden, zu den Nachbarskindern zu gehen, sondern es vorzogen, unter uns zu bleiben und in Haus und Hof nach Herzenslust zu spielen. Das blieb auch so, als zum Spielen das Lernen hinzutrat, Im Jahre 1895 kam ich auf die 14 Minuten entfernte Volksschule am Dyck, die ich sechs Jahre lang besucht habe.
Auf die beiden letzten Jahre meiner Volksschulzeit legte sich ein dunkler Schatten. Bei meinem Vater, der schon immer gekränkelt hatte, stellte sich ein schweres Herzleiden ein. Die Krankheit dauerte etwa zwei Jahre und endete im Frühjahr 1900 mit seinem Tode. (Mein Vater starb mit 42 Jahren). Ein Riß ging damals durch unseren Jugendhimmel. Noch sehe ich im Geiste die in Tränen aufgelöste Mutter vor mir. Ihr unsagbarer Schmerz war ja auch nur zu begreiflich. Sie stand jetzt allein mit sieben Kindern, von denen das älteste zehn, das jüngste anderthalb Jahre alt war. Und den ganzen Gutsbetrieb mußte sie weiterführen und zwar mit lauter fremden Kräften. Das war eine schier übermenschliche Aufgabe. Aber mit ihrem Frohsinn und ihrer echten Frömmigkeit hat sie die schwere Aufgabe gemeistert. Das Wirtschaftliche lag ihr freilich weniger, umso mehr das Erzieherische. Ich denke heute noch mit Bewunderung an die Art und Methode ihrer Erziehung zurück. Sie ließ sich dabei weniger von Verstandesüberlegungen als vielmehr von der fraulichen Intuition leiten, die ihr auch in anderer Hinsicht geschenkt war. Nicht mit Strenge und Strafen erzog sie uns, sondern indem sie uns auf unsere Fehler und Fehltritte in mütterlicher Weise aufmerksam machte, an unser Gefühl für Ehre und Anstand appellierte und durch ihr ganzes Wirken, ihr Beten und Arbeiten, ihr Leisten und Dulden, eine Atmosphäre schuf, in der alle edlen Keime einer jungen Seele gedeihen mußten. Wie es damals in den besseren Familien meiner Heimat üblich war, schickte sie mich nach sechs Volksschuljahren auf die Rektoratschule in Lobberieh. Es war ein Ausdruck ihrer echten Frömmigkeit, wenn sie von mir verlangte, daß ich jeden Morgen die im Sommer um 7 1/4 Uhr, im Winter um 7 3/4 Uhr beginnende Schulmesse besuchte. Da der Weg nach Lobberich 45 Minuten weit war, mußte ich im Sommer schon um b Uhr aufstehen, um rechtzeitig im Gottesdienst zu sein. Im Winter stand oft noch der Mond am Himmel, wenn ich das Elternhaus verließ, und ich habe unterwegs manchmal ein wenig Angst gehabt, vor allem wenn ich in der Dunkelheit an einem großen Feldziegelofen vorbeikam, an dem fremde Arbeiter beschäftigt waren. Nachdem ich ein Jahr lang den Weg zu Fuß gemacht hatte, kaufte meine Mutter mir ein Fahrrad, das eine große Erleichterung bedeutete. Nach einem weiteren Jahr war die gesetzlich vorgeschriebene Schulzeit für mich zu Ende und konnte ich entlassen werden. Für meine Mutter wäre es eine große Hilfe und Entlastung gewesen, wenn ich als Ältester in den Gutsbetrieb eingetreten wäre. Ich hätte ihr dann schon bald die Leitung und damit eine ungeheure Sorgenlast abnehmen können. Aber ich hatte merkwürdigerweise keine Freude an der Landwirtschaft. Ich trug in meinem Herzen ein anderes, ganz anderes Berufsideal. Die eifrige Pflege des Religiösen, insbesondere der tägliche Besuch des Meßopfers, hatte die Hinneigung zu ihm mächtig genährt. Obwohl meine Mutter nie an diese Dinge rührte und nie den geringsten Einfluß auf die Wahl meines Berufes ausgeübt hat, ahnte sie doch wohl etwas von dem Heiligtum meines Herzens. Und so waren es wohl zutiefst religiöse Motive, die ihr die Kraft gaben, in jener Entscheidung die Seelengröße und den Opfersinn aufzubringen, auf meine Hilfe zu verzichten. Bis übers Grab hinaus bin ich ihr dafür dankbar.
Die Rektoratsrhule meines Heimatstädtchens besuchte ich drei Jahre lang. Die Schule hatte in ihren vier Klassen (Sexta bis Untertertia) insgesamt etwa 65 Schüler. Leiter der Schule war damals der geistliche Rektor Heinrich Hölker, ein ausgezeichneter und allgemein geschätzter Schulmann. Bei ihm hatten wir auf den beiden unteren Klassen Latein. Dieses Fach war meine besondere Stärke. Seine Bedeutung wurde dadurch unterstrichen, daß die Plätze nach den Noten der Lateinarbeiten verteilt wurden. Da ich ein ehrgeiziger Schüler war, schlug mein Herz jedesmal höher, wenn neben der Note stand "1 . Platz". Auf Quinta gelang es mir, einen Rekord aufzustellen, indem ich 25mal hintereinander den ersten Platz erhielt. Meine Mitschüler, besonders die älteren, neideten mir das sehr. Sie verschworen sich, mich unter allen Umständen vom ersten Platz herunterzubringen. Eines Tages schien ihnen das wirklich gelungen zu sein. Sie triumphierten, als einer von ihnen den ersten Platz bekam und ich auf den zweiten rückte. Aber ihr Triumph war nur von kurzer Dauer. Als nämlich die Arbeit in der Klasse besprochen wurde, stellte sich heraus, daß der Schüler, der mich vom ersten Platz verdrängt hatte, einen Trick angewandt hatte. Er hatte nicht den Satz übersetzt, in dem ich (mit vielen anderen) einen Bock geschossen hatte, sondern einen andern, leichteren, und hatte so in schlauer Weise die gefährliche Klippe umschifft. Als unser Lehrer das feststellte, änderte er sofort die Plätze: mein Konkurrent erhielt den zweiten und ich wiederum den ersten. Nun konnte ich triumphieren. - Einen sehr tiefen Eindruck hat ein anderer Lehrer bei mir hinterlassen. Sein Name war Lepper. Er war ebenso streng gegen sich wie gegen seine Schüler. Manche sahen nur diese Außenseite seines Wesens und mochten ihn nicht. Mir aber wurde es immer deutlicher, daß diese harte, vielleicht allzu harte Schale einen wundervollen Kern barg. Und dieser Kern war seine Frömmigkeit, die ebenso echt wie tief war. Wenn man ihn in der Messe sah; den Kopf in beiden Händen haltend, versunken in tiefer Betrachtung des sieh auf dem Altar vollziehenden Mysteriums, so konnte man sich daran nur erbauen. Nicht weniger erbaulich waren seine Religionsstunden, aus denen mir die Betrachtungen über das Leiden Christi wegen ihrer großen Eindringlichkeit besonders im Gedächtnis haften geblieben sind. Ich bin diesem herrlichen Mann, an dessen Wohnung ich auf meinem Schulweg immer vorbeikam, oft außerhalb der Schule begegnet und habe ihm dann stets durch einen ehrfürchtigen Gruß meine tiefe Verehrung zu bezeigen gesucht.
Nicht minder ideal, aber von ganz anderer Art, weniger ernst und schwerblütig, war ein dritter Lehrer: Budde. Als Vater einer großen Kinderschar wußte er mit jungen Menschen ausgezeichnet umzugehen. Er hatte stets treffende Ausdrücke zur Verfügung, wenn es galt, Dummheit oder Faulheit anzuprangern, und er kannte auch keine Hemmungen in ihrem Gebrauch. Ich erinnere mich noch an einen Mitschüler aus dem Nachbarort Breyell, der sich mehr durch körperliche als geistige Größe auszeichnete. Sein Vorname war Christian. Als dieser Christian wieder einmal seine Dummheit offenbart hatte, tat Lehrer Budde den köstlichen Ausspruch: "Seh' ich mir mein Rindvieh an, denk' ich an den Christian." Aus dem Nachbarort von Breyell, Schaag, stammten mehrere Schüler, die durch Körperfülle und eine entsprechende geistige Trägheit auffielen. Auf sie münzte unser Lehrer das Wort, das bald zu einem geflügelten Wort wurde: "Dick, dumm, faul und gefräßig." Leider ist unser verehrter Lehrer noch in den besten Jahren einer bösen Lungenentzündung zum Opfer gefallen. Ich war damals nicht mehr auf der Rektoratschule; aber Freunde haben mir von seinem herrlichen Sterben erzählt. Es war das Sterben eines Mannes, dessen unerschütterliches, grenzenloses Gottvertrauen die Schatten des Todes bezwingt und die schmerzliche Trennung von den Lieben zu einem seligen Heimgang zum Vater macht.
So habe ich in den schönen Jahren, die ich auf der "Studentenschule" (wie die Lobbericher sie nannten) verbrachte, nicht nur intellektuelle, sondern auch tiefere, für die Bildung des Charakters entscheidende Werte empfangen. Kein Wunder, daß ich zeitlebens mit tiefer Dankbarkeit an die Männer zurückgedacht habe, die sie mir vermittelten. Aber nicht nur mit einem Dankgefühl, auch mit einem Gefühl des Stolzes denke ich an die Lobbericher Studentenschule. Ich glaube, ich mache mich keiner Übertreibung schuldig, wenn ich sage, daß sie in Deutschland nicht ihresgleichen hat. Sind doch aus ihr nicht weniger als sechs Universitätsprofessoren hervorgegangen. Der berühmteste von ihnen ist ein Gelehrter, der nicht nur zu den größten Gelehrten Deutschlands und Europas, sondern unseres Planeten zählt. Es ist der bekannte klassische Philologe Werner Jaeger, der in der Nazizeit nach Amerika emigrierte und dort seit vielen Jahen an der Universität Cambridge wirkt. Wir waren noch ein Jahr zusammen auf der Rektoratschule, er auf Untertertia und ich auf Sexta. Schon damals war er ein Phänomen. Las er doch, so wurde erzählt, als Untertertianer auf eigene Faust die lateinischen und griechischen Schriftsteller der Untersekunda. Von Lobberidi ging er nach Kempen, wo ein humanistisches Gymnasium war, von dort nach Berlin, wo seine überragende Begabung von dem berühmten v. Wilamowitz erkannt wurde, dessen Nachfolger er dann nach kurzer Tätigkeit an den Universitäten Basel und Kiel wurde -- eine einzigartige akademische Laufbahn. Ich habe später mit ihm korrespondiert und erlebte die große Freude, daß auch er sich an der von Gelehrten des Zn- und Auslandes zu meinem 6o. Geburtstag mir dargebrachten Festschrift beteiligte, indem er sie durch folgendes Grußwort einleitete:
"Sehr verehrer Herr Kollege! Zu Ihrem 60. Geburtstag, den Sie ein Jahr später als ich begehen, möchte ich Ihnen meine wärmsten Glückwünsche und Grüße über den atlantischen Ozean senden. Ich lege in meine Wünsche hinein mein tiefes Verständnis für das, was Sie während der schweren Jahre eines Regimes der Unfreiheit zu erleiden gehabt haben, und meine aufrichtige Freude darüber, daß das alles nun wie ein Traum hinter Ihnen liegt und Sie wieder ungehindert
Ihre akademische Tätigkeit ausüben können. Doch noch tiefer liegen die Wurzeln meiner lebhaften Sympathie für Sie und Ihre Arbeit, denn wir sind Landsleute im engsten Sinne des Wortes und Alumnen derselben Schule, und beide haben wir unser Leben der Erhaltung der geistigen Tradition gewidmet, die uns dort gelehrt wurde, ich von Aristoteles und den griechischen Vätern aus, Sie von Augustin her und der mittelalterlichen Philosophie. Möge Ihr Lebenswerk sich in weiteren Dezennien erfolgreicher Arbeit vollenden können, das ist mein alles andere mit in sich fassender Wunsch zu Ihrem Festtage, Ihr aufrichtig ergebener Werner Jaeger."
Nachdem ich die Quarta der Rektoratschule absolviert hatte, - aus der Rektoratschule ist inzwischen (1958) ein "Werner-Jaeger-Progymnasium" geworden -- kam ich, einer alten Familientradition entsprechend, zur Gaesdonck. Diese in der Nähe der holländischen Grenze bei Goch gelegene, humanistisch gerichtete bischöfliche Studienanstalt begann mit Untertertia und führte zum Abitur, das damals freilich auswärts (in Emmerich oder Kempen) gemacht werden mußte.
Gaesdonck war ein Augustiner-Chorherren-Kloster gewesen und nannte sich daher als Studienanstalt "Collegium Augustinianum". Es war Gymnasium und Internat zugleich. In beiden herrschte auch die gleiche Strenge. Im Sommer wie im Winter mußten wir um 514 Uhr aufstehen und nüchtern eine volle Stunde strenges Silentium halten. Der Unterricht war von 8 bis 12 und von 2 bis 4 Uhr. Mittwochs, samstags und auch sonntags wurde ein gemeinsamer Spaziergang unter Führung von zwei Lehrern gemacht. 1n der Schule wurde das Äußerste gefordert, besonders auf der Prima, weil das Abitur an einer fremden Anstalt vor einer strengen Kommission stattfand. Die Folge davon war, daß viele vor der Unterprima abgingen, so daß die Zahl der Abiturienten verhältnismäßig gering war. So stiegen wir, die wir auf der Untertertia 42 zählten, zu 10 ins Abitur. Den Vorsitz bei der Prüfung für die mittlere Reife (das "Einjährige"), die auf Gaesdanck stattfand, wie auch beim Abitur führte der als Verfasser eines Lesebuches für die Oberstufen weithin bekannte Schulrat Buschmann. Er hatte für Gaesdonck eine besondere Sympathie, die ihren Grund in den Leistungen ihrer Alumnen hatte. Auf einer Direktorenkonferenz in Koblenz (1909) sang er, wie Teilnehmer erzählt haben, ein Loblied auf die Gaesdonck und erklärte: "Ich kenne nur eine einzige Anstalt im Rheinland, auf der die Schüler zu selbständigem Arbeiten und Denken angeleitet werden, und das ist das Collegium Augustinianum in Gaesdonck". Das Lob war berechtigt.ln der Stille und Abgeschiedenheit der alten Kanonie eigneten wir uns nicht nur einen gewaltigen Wissensstoff an, sondern erfuhren auch eine vorzügliche Schulung des Denkens. Als wir 1910 zum Abitur in Emmerich antraten, verfügten wir über eine humanistische Bildung, wie sie Abiturienten anderer Anstalten wohl kaum besaßen. Als Mitglied des wissenschaftlichen Prüfungsamtes an der Universität Köln habe ich wiederholt die Feststellung machen können, daß unser Wissen in den alten Sprachen gediegener war als das manches Kandidaten, der sich heute zum Staatsexamen meldet.
Als einen gewissen Mangel muß ich es bezeichnen, daß an der Anstalt die Philosophie überhaupt nicht gepflegt wurde. Man empfand offenbar nicht die Verpflichtung, die in ihrem Namen lag: Collegium Augustinianum. Wäre der Geist des großen Philosophen von Hippo dort stärker lebendig gewesen, dann hätte man nicht nur die philosophische Propädeutik auf der Prima eingeführt, sondern auch den Lateinunterricht in der lateinischen Sprache, der Sprache Augustins, erteilt, wie es erfreulicherweise an manchen Klosterschulen geschieht. Aber trotz dieser und anderer Mängel muß ich, wenn ich mir den Studienbetrieb als Ganzes vergegenwärtige, konstatieren, daß er hervorragend war.
Dort, so muß ich heute sagen, hat sich mein geistiges Werden vollzogen. Im Collegium Augustinianum habe ich das Fundament für meine spätere wissenschaftliche Laufbahn gelegt.